Verfahren gegen Koran-Verteiler laufen
Kann auch die Schweiz «Lies!» verbieten?

Die deutschen Behörden haben die Koran-Verteilaktion «Lies!» heute verboten. Obwohl diese auch in der Schweiz aktiv ist: Wegen fehlender gesetzlicher Grundlagen ist ein so entschiedenes Vorgehen gegen die Salafisten hierzulande nicht möglich.
Publiziert: 15.11.2016 um 15:23 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 21:51 Uhr
Auch in der Schweiz verteilt «Lies!» Gratis-Korane – so wie hier am vergangenen Wochenende in Winterthur.
Foto: Facebook
Lea Hartmann

Zürich, Winterthur ZH, Wil SG, Aarau: Die Mitglieder von «Lies!» waren am vergangenen Wochenende gleich in mehreren Schweizer Städten im Einsatz. Auf weiss gedeckten und mit roten Rosen dekorierten Tischen stapelten sich die Korane, die die bärtigen Männer freundlich lächelnd an Passanten verteilten.

Solche Koran-Verteilaktionen finden inzwischen weltweit statt. In der Heimat der Salafisten-Bewegung haben die Behörden ihr nun allerdings einen Riegel geschoben. Das Bundesinnenministerium in Deutschland hat die Vereinigung Die wahre Religion, die hinter der umstrittenen Koran-Verteilaktion steht und vom deutschen Hassprediger Ibrahim Abou-Nagie gegründet worden ist, heute offiziell verboten und aufgelöst. Nach über einem Jahr Vorbereitung haben Ermittler am frühen Morgen über 190 Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen in ganz Deutschland durchgeführt.

Durch die Verteilaktion Hassbotschaften verbreitet

Zwei «Lies!»-Mitglieder posieren während einer Verteil-Aktion in Münster (D). Der gestreckte Zeigefinger ist das Zeichen der Terrormiliz IS.
Foto: Facebook

«Mit der Koranübersetzung in der Hand werden Hassbotschaften und verfassungsfeindliche Ideologien verbreitet und Jugendliche mit Verschwörungstheorien radikalisiert», begründet Innenminister Thomas de Maizière den Entscheid.

Das Verbot stützt sich auf Artikel 3 des deutschen Vereinsgesetzes, das ein Verbot vorsieht, wenn die Zwecke oder Tätigkeit einer Vereinigung «den Strafgesetzen zuwiderlaufen» oder sich der Verein «gegen die verfassungsmässige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet».

Fehlende Gesetzesgrundlage in der Schweiz

Ein Gesetzesartikel, wie er hierzulande nicht besteht. Die Schweiz ist im Gegensatz zu anderen Staaten äusserst zurückhaltend, was Verbote von Organisationen anbelangt, eine gesetzliche Basis dafür gibt es nicht. Die einzigen Organisationen, die verboten sind, sind die Terrormiliz IS und Al Kaida. Mit Verweis auf die Verfassung hatte der Bundesrat das Verbot per dringlichem Bundesgesetz erlassen – zeitlich befristet bis 2018.

Davon abgesehen gibt es in der Schweiz keine Organisationsverbote, sondern lediglich die Möglichkeit von Tätigkeitsverboten. Das «Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit» sieht vor, dass der Bundesrat einer Person, Organisation oder Gruppierung eine Tätigkeit verbieten kann, «die unmittelbar oder mittelbar dazu dient, terroristische oder gewalttätig-extremistische Umtriebe zu propagieren, zu unterstützen oder in anderer Weise zu fördern, und die die innere und äussere Sicherheit der Schweiz konkret gefährdet». Ein solches Verbot kann nur nach Anhörung des Nachrichtendienstes (NDB) ausgesprochen werden. Und ebenfalls nur befristet.

«Gemäss diesen Kriterien unterstehen Bewegungen ohne Bezug zu Gewalt beziehungsweise zu Terrorismus oder Gewaltextremismus in der Schweiz keiner polizeilichen oder präventiven nachrichtendienstlichen Beobachtung», sagt NDB-Sprecherin Isabelle Graf zu BLICK. Grundsätzlich gelte, dass «Koranverteilungen alleine keine Bedrohung der inneren oder äusseren Sicherheit darstellen». «Solange keine konkreten Gewaltbezüge feststellbar sind, bearbeitet der NDB Koranverteilungen deshalb nicht.» 

Strafverfahren gegen Koran-Verteiler

Das fehlende Organisationsverbot verhindere jedoch nicht, dass die Strafverfolgungsbehörden «bei Bedarf» aktiv würden, sagt André Marty, Sprecher der Bundesanwaltschaft. So führe seine Behörde aktuell verschiedene Strafverfahren gegen Personen, die in Verbindung mit der Aktion «Lies!» stünden oder gestanden hätten. Im Zusammenhang mit diesen Verfahren kooperiere man auch mit den deutschen Behörden.

Zudem könnten auch die Kantone aktiv werden und – auf Basis der kantonalen Gesetzgebung – Bewilligungen für Standaktionen verweigern oder Verbote aussprechen, sagt NDB-Sprecherin Graber. Das ist bislang allerdings nicht geschehen. Zürich wie auch Winterthur, wo «Lies!» am präsentesten ist, haben Verbote zwar geprüft – wegen fehlenden Hinweisen auf strafbare Handlungen aber wieder verworfen.

Auch Dschihad-Rekrutierer Gashi gehörte dazu

IS-Mann Valdet Gashi (28) ist ein Freund Luans.

Was die Strafverfahren der Bundesanwaltschaft gegen einzelne Koran-Verteiler betrifft, sind diese nicht erst im Zusammenhang mit der Polizeiaktion in Deutschland eröffnet worden, sagt André Marty, Sprecher der Bundesanwaltschaft. Ein mutmasslicher Dschihadist, gegen den die Bundesanwaltschaft schon seit Längerem ermittelt, ist der gebürtige Italiener S.*. Der Emir von Winterthur, wie er sich selbst nannte, wurde im Sommer festgenommen und sitzt seither in Untersuchungshaft. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm vor, für den IS gekämpft und in der Schweiz für die Terrormiliz geworben zu haben. Wie die meisten Dschihadisten aus der Winterthurer Szene verteilte auch er für «Lies!» Korane. 

Auch Thaibox-Weltmeister Valdet Gashi war Koran-Verteiler, bevor er begann, Jugendliche für die Terrormiliz IS zu rekrutieren. Er zog schliesslich selbst in den Dschihad, wo er im vergangenen Jahr ums Leben kam. Laut eigenen Angaben war es der Verein Die wahre Religion, durch den er überhaupt erst zum Islam fand. In einem Videoclip verurteilt Gashi 2012 die bereits damals in Deutschland geäusserte Forderung, «Lies!» zu verbieten. Die Behauptung, dass die Aktion zum Terror aufrufe, sei komplett falsch, sagt er darin und beteuert: «Wir verteilen nur ein Buch!»

* Name der Redaktion bekannt

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