Haben sich die Befürchtungen der SVP bewahrheitet? Vor welchen Problemen, die mit Einwanderung zu tun haben, steht die Schweiz?
Christian Levrat: Der Mittelstand ist am Anschlag: Die Löhne sind unter Druck, die Krankenkassen-Prämien steigen und das Wohnen wird immer teurer. Mit der Zuwanderung hat das nur am Rande zu tun. Die Probleme sind die Folge der bürgerlichen Politik, die nur die Interessen der Wohlhabenden und der Grossunternehmen bedient. Umso wichtiger sind die flankierenden Massnahmen, mit denen wir unseren Arbeitsmarkt schützen.
Albert Rösti: Jeder Bürger spürt in seinem Alltag, in Form von Staus, überfüllten Zügen, Schulklassen mit fast nur Ausländern oder Problemen für Stellensuchende über 50 immer dramatischer, was es bedeutet, wenn in nur zehn Jahren netto über 750’000 Menschen in unser kleines Land einwandern und unsere Grenzen nicht mehr kontrolliert sind. Sobald unsere Wirtschaft in eine Rezession gerät, wird die Situation komplett ausser Kontrolle geraten.
Petra Gössi: Die Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Die Arbeitslosigkeit ist trotz des starken Frankens nicht gestiegen. Und in die Infrastrukturen investieren wir wie kaum ein anderes Land. Die Zuwanderung geht merklich zurück. Damit das auch in Zukunft der Fall ist, fordern wir eine harte, aber faire Migrationspolitik: Das grösste Problem ist nicht die Zuwanderung aus der EU, sondern diejenigen Menschen, die nur hierher kommen, um von unserem Land zu profitieren und sich nicht integrieren.
Gerhard Pfister: Die Einwanderung hat in den letzten Jahren abgenommen. Das zeigt, dass die wirtschaftliche Situation in der Schweiz die Einwanderung am stärksten beeinflusst.
Welche Fehler hat der Bundesrat in den Verhandlungen und Konsultationen mit der EU gemacht? Hätte die Schweiz mutiger sein sollen?
Christian Levrat: Die Schweiz kann froh sein, dass sie nicht in einer so schlechten Situation ist wie Grossbritannien nach dem Brexit. Es ist uns gelungen, die bilateralen Verträge mit der EU zu erhalten, das ist als Erfolg zu werten.
Albert Rösti: Der Bundesrat hat gar nie richtig verhandelt und von Anfang an die Interessen der EU in den Vordergrund gestellt, indem für ihn die Personenfreizügigkeit als unantastbar galt. Die Briten machen uns im Moment gerade vor, was Demokratie heisst: nämlich die Umsetzung eines Volksentscheids durch die Regierung ohne Wenn und Aber.
Petra Gössi: Der Bundesrat hat es verpasst, geeint und schlagkräftig Lösungen zu erarbeiten, selbst nach dem Brexit-Entscheid schaffte er das nicht. Hier hätte er klar eine Führungsrolle einnehmen müssen. Bei der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative musste das Parlament mutig sein und einen Weg finden, der die bilateralen Verträge und so die Arbeitsplätze in der Schweiz nicht gefährdete.
Gerhard Pfister: Ja, Bundesrat und Parlament hätten mutiger sein sollen. Das von FDP und SP beschlossene Gesetz bringt nichts ausser Bürokratie. Im Gegenteil, die Migration könnte deswegen sogar wieder steigen.
Könnte die Schweiz ohne Personenfreizügigkeit wirtschaftlich bestehen?
Christian Levrat: Dass wir innerhalb Europas frei reisen, arbeiten und wohnen können, ist eine grosse Errungenschaft. Ich bin froh, dass unsere Jugend auch künftig diese Chancen hat. Denn ein Europa, in dem Waren und Kapital frei fliessen können, die Menschen aber innerhalb von undurchlässigen Grenzen eingeschlossen sind, ist nicht erstrebenswert. Die wirtschaftliche Frage ist darum sekundär. Aber ein Ende der Personenfreizügigkeit würde uns auch wirtschaftlich schaden, weil damit auch die Bilateralen fallen würden.
Albert Rösti: Ja, besser! Die Personenfreizügigkeit ist in erster Linie im Interesse der EU, aufgrund unseres hohen Lohnniveaus und Sozialstandards. Unsere Unternehmen haben auch früher immer die Fachkräfte erhalten, die sie wirklich brauchten. Das Wachstum pro Kopf lag in der Schweiz seit der Einführung der Personenfreizügigkeit praktisch bei null. Das war vorher anders. Die Situation hat sich also seit der Personenfreizügigkeit verschlechtert.
Petra Gössi: Die zentrale Frage ist: Können wir ohne die bilateralen Verträge wirtschaftlich bestehen? Hier ist die Antwort klar Nein – das kann unser Land nicht. Denn wir sind wie kaum ein anderes Land auf unsere Exportmärkte angewiesen. Dass die in unseren Nachbarstaaten liegen, ist klar. Unser Handel mit Baden-Württemberg beispielsweise ist gleich gross wie unser Handel mit den USA. Wer exportieren will, braucht Marktzugang. Die bilateralen Verträge garantieren das. Ohne Personenfreizügigkeit jedoch gibt es keinen bilateralen Weg.
Gerhard Pfister: Nur, wenn eine gute Alternative zu den Bilateralen besteht. Aber es ist nicht an mir, diese Alternativen zu suchen.
Welche Lehren haben Sie aus drei Jahren MEI-Umsetzungsknatsch gezogen?
Christian Levrat: Ich habe die erfreuliche Erkenntnis gewonnen, dass sehr viele Menschen mit dem Abschottungskurs und der Fremdenfeindlichkeit der SVP nicht einverstanden sind. Die Zivilgesellschaft ist erwacht und meldet sich lautstark zu Wort.
Albert Rösti: Wir haben es heute offenbar mit Mehrheiten im Parlament und im Bundesrat zu tun, die nicht genehme Volksentscheide ignorieren und die Verfassung missachten. Auf dem Spiel steht der Erhalt unserer direkten Demokratie! Damit zeichnet sich ab, dass die Wahlen 2019 zum entscheidenden Kampf des Schweizer Volks um seine Rechte, um seine Freiheit werden.
Petra Gössi: Dem Volk muss immer von Anfang an klar und unmissverständlich aufgezeigt werden, was die Konsequenzen bei der Annahme solcher Initiativen sind – und zwar für jeden einzelnen Menschen, seinen Arbeitsplatz und seinen Wohlstand. Das wurde im Vorfeld der Abstimmung zu wenig gemacht.
Gerhard Pfister: Die CVP hat sich immer eingesetzt für ein Gesetz, das den Volkswillen respektiert und die Bilateralen erhält. Das Parlament wollte davon nichts wissen. Die FDP- und SP-Mehrheit im Parlament sollte mehr Respekt vor Volksentscheiden haben.