Der oberste Protestant, Gottfried Locher, wünscht sich eine fleissigere Schweiz
«Ein wirklich christliches Land hat Platz für Andersgläubige»

Gottfried Locher spricht im grossen BLICK-Interview unter anderem über die Kirche im digitalen Zeitalter, das Verhältnis des Glaubens zur Vernunft und die Glaubensfreiheit.
Publiziert: 04.04.2015 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 09.10.2018 um 00:40 Uhr
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Unkonventionell: Gottfried Locher ist seit 2011 Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes.
Foto: Mirko Ries
Interview: Thomas Ley und Matthias Halbeis; Fotos: Mirko Ries

BLICK: Herr Locher, Sie hören diese Frage vor hohen Feiertagen wohl oft, aber wir können sie Ihnen nicht ersparen: Die Menschen ziehen sich aus den Kirchen zurück – was machen Sie falsch?
Gottfried Locher:
Ich sehe das anders: Viele Tausend Christinnen und Christen gehen Sonntag für Sonntag in der Schweiz in den Gottesdienst. Jetzt über Ostern sind es noch viele mehr. Da zeigt sich eben, dass eine Kirchgemeinde ein echtes Netzwerk ist, kein virtuelles.

In Zeiten virtueller Netzwerke ist das vielleicht gar nicht mehr so gewünscht.
Tatsächlich sind wir immer vernetzter: auf dem Handy, im Internet, in den sozialen Medien. Aber sind wir deswegen weniger einsam? Meine Kinder werden am Mittagstisch nach zehn Minuten langsam nervös, weil sie ihre SMS, die E-Mails oder Facebook checken müssen. Nach einer halben Stunde werde auch ich selber schon nervös. Wir sind ständig eingebunden.

Nervig, aber eigentlich auch gut, oder nicht?
Ja und nein. Wir sitzen diesen anderen ja nicht am Tisch gegenüber. Wir sehen nicht, wie er oder sie spricht, gestikuliert, lächelt, die Stirn runzelt. Da sind so viel mehr Informationen, die im digitalen Kontakt verloren gehen. Zu echter Gemeinschaft gehört, dass man ­einander 1:1 erlebt. Das ist ja auch die grosse Chance der Kirchen.

Warum?
Gottesdienste bringen Menschen zusammen, physisch, nicht nur vir­tuell. Abendmahl feiern wir, indem wir das Brot wirklich teilen, den Wein wirklich trinken. Alle brauchen wir immer wieder mal echte Nähe.

Um jemanden zu treffen, kann ich doch auch in einen Verein.
Ja, das mache ich auch gern. Aber zwischendurch ist es Zeit für die grossen Fragen des Lebens. Genau da ist die Kirche stark. Wir sprechen darüber, was im Leben wirklich zählt. Wir begleiten Menschen in Freud und Leid. Wir teilen Erlebnisse, die nicht alltäglich sind. Wir teilen einen Glauben, der jedem Leben Sinn und Ziel schenkt. Davon dürfen alle Christen überzeugt sein.

Sind sie das?
Ich glaube schon, viele sind es. Manchmal wünschte ich mir schon, wir würden unserem Glauben selber mehr zutrauen. Stehen wir zum Evangelium! Stehen wir dazu, dass Ostern ein wunderbares Erlebnis ist! Aber Ostern ist auch ein Affront für die Vernunft. Die Auferstehung: Wie sollen wir das je begreifen? Lassen wir es doch das sein, was es ist: ein fröhliches Geheimnis. Gute Theologie weiss, dass wir nicht verstehen, sondern glauben.

Eine Konkurrenzreligion hat weniger Probleme damit, sich der modernen Vernunft zu verweigern: der Islam. Macht er das besser?
Ich kann nur für das Christentum sprechen. Wir können Denken und Glauben nicht voneinander trennen. Aber gerade wer scharf denkt, der kennt die Grenzen dessen, was der Verstand erfassen kann. Christlicher Glaube nimmt sich die Freiheit, über unser menschliches Blickfeld hinauszublicken.

Man könnte sagen: Das Christentum ist entmachtet. Muss man nun auch den Islam entmachten?
Warum soll unsere Kirche Macht wollen? Jesus hatte auch keine. Von Gott zu sprechen – dafür brauchts vor allem innere Überzeugung. Dann hat das Christentum eine Stimme, auf die man hört.

Ist die Schweiz eigentlich ein christliches Land?
Sie hat eine lange und starke christliche Tradition. Christliche Werte sind uns wichtig, auch die typisch reformierten, Freiheit und Eigenverantwortung. Aber auch Glaubensfreiheit: Ein wirklich christliches Land hat Platz für Andersgläubige.

Das protestantische Arbeitsethos war jedenfalls sicher prägend für die Entwicklung der Schweiz: Alle sind fleissig, die Reichen tragen Verantwortung. Heute gilt die Elite als unglaubwürdig, und der Gemeinsinn nimmt ab. Ist uns da etwas abhandengekommen?
So pauschal stimmt das alles nicht. Unzählige Schweizerinnen und Schweizer arbeiten still und leise nicht nur für sich selber, sondern auch für die Allgemeinheit. Nicht jeder hängt an die grosse Glocke, was er für andere tut. Das gilt für Reiche so sehr wie für Arbeitslose. Und was das protestantische Arbeitsethos angeht: Seien wir doch stolz darauf! Ja, wir arbeiten gerne. Fleiss ist eine Tugend, der wir in der Schweiz viel verdanken.

Aber verträgt sich dieses Zelebrieren des Fleisses mit der Notwendigkeit sozialer Auffangnetze? Es gibt Kollegen von Ihnen, die sehen den Sozialstaat inzwischen als geradezu unmenschlich an.
Unser Staatswesen funktioniert sehr gut, verglichen mit vielen anderen Ländern, die ich bereist habe. Dazu gehört auch, dass wir uns um Menschen kümmern, die Hilfe brauchen. Ich kann mir keinen Staat mit christlichem Menschenbild vorstellen, der in der Not nicht hilft. Aber der Staat kann nicht alles, Eigen­initiative ist gefragt. Freiheit und Eigenverantwortung: Das sind zwei wichtige reformierte Tugenden.

Ist unsere Gesellschaft unsozialer geworden? Gieriger?
Ich bezweifle, dass sie je anders war. Gier ist doch keine Erfindung der Gegenwart! Das ist ein uraltes Laster: Wir wollen immer noch mehr. Und immer mehr als ­eigentlich gesund ist. Das war doch schon immer so.

Der Unterschied ist, dass manche seit einiger Zeit sagen: Gier ist kein Laster – sie ist gut und bringt uns alle voran.
Alles eine Frage des Masses. Ein Laster ist manchmal auch eine Triebfeder, die uns Schwung gibt. Aber wir sollten dann nicht übers Ziel hinausschiessen. Laster beeinflussen uns. Nur wer sich das ehrlich eingesteht, kann damit verantwortlich umgehen. Wer behauptet, er sei nicht auch ein wenig gierig, eitel, geizig oder so, der macht sich vermutlich etwas vor. Natürlich darf man gefährliche Triebe nicht schönreden mit Slogans wie «Geiz ist geil». Trotzdem: Ich behaupte, wir sind nicht lasterhafter als frühere Generationen.

Eitelkeit ist doch ein Laster, nicht? Sind wir Schweizer nicht etwas eitel? Indem wir uns ständig als Sonderfall feiern?
Ich empfinde uns eher als Sonderfall in Sachen Masshalten. Ich erlebe kaum ein Volk als so ausgeprägt bemüht, sich zu mässigen, wie wir das tun. Manchmal bis zur Gleichmacherei. Nur ja keine Ausschläge, nicht nach unten und nicht nach oben! Das verhindert viele unschöne Exzesse, manchmal aber auch eine gewisse Exzellenz.

Die tugendhafte Schweiz?
Ein Tugend-Laster-Gemisch, aber kein ungesundes. Übermässig geizig ist unser Land jedenfalls sicher nicht, finde ich. Wir helfen an vielen Orten. Aber wir bleiben bewusst klein, das schützt uns vor uns selbst.

Als Land der Banker haben wir da einen anderen Ruf.
Gross ist der Schaden, wenn die Gier mit jemandem durchbrennt. Das meine ich mit dem Masshalten: Bleiben wir klein, aber fein! Bleiben wir selbstbewusst, aber bescheiden! Gesundes Masshalten ist ein Schlüssel zum Erfolg. Der Mittelweg zwischen Zaudern und Übertreiben – das ist Weisheit.

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