Shlomo Graber (90) hat Angst. «Ich fühle mich immer öfter in meine Jugendzeit zurückversetzt», sagt der Kunstmaler und Autor. In seinem Essay «Gedanken zur Lage der Welt» präzisiert er: «Ich fürchte, dass sich bald schon ‹starke Männer› nicht nur als Politiker, sondern wieder als ‹Führer› anbieten werden.»
Damals, als «ein kleiner Mann mit Schnauzer genau diese Rolle des Heilsbringers dem deutschen Volk antrug», wie es Shlomo Graber beschreibt, lag Europa am Ende in Trümmern. Und mehr als sechs Millionen Juden waren ermordet – darunter Grabers Geschwister und seine Mutter. Der 17-jährige Shlomo und sein Vater wurden an der Rampe in Auschwitz von der Familie getrennt, überlebten zwei weitere Konzentrationslager und 1945 auch noch einen Todesmarsch.
Nach der Befreiung kam das Schweigen
Der Mann mit dem schneeweissen Haar schliesst die Augen. Das Sprechen über die Zeit in der Häftlingsuniform fällt ihm schwer. «Denn damals, kurz nach der Befreiung, haben wir auch geschwiegen», erinnert er sich. «Die Menschen in Israel konnten sich gar nicht vorstellen, wozu der Hass geführt hatte.» In seinem Buch «Der Junge, der nicht hassen wollte» verzichtete Graber, ein gebürtiger Tschechoslowake, auf «zu brutale» Schilderungen. Und trotzdem: «Ich habe überlebt, damit ich meine Geschichte erzählen kann», sagt er und hält kurz inne. Ja, er sei wohl sogar noch auf der Erde, um die «jungen Leute von heute» zu warnen: «Lasst euch nicht aufhetzen, Hass zerfrisst das Gute im Menschen.»
Man könne sich gegen dieses urmenschliche Gefühl entscheiden, auch wenn einem schlimmes Unrecht widerfährt. «Damals, 1945, als ich befreit wurde, hatte ich allen Grund, die Deutschen zu hassen», sagt Shlomo Graber und berichtet von seinem Schlüsselmoment: Er teilte sein letztes Stück Brot mit einer Mutter und ihrem Kind. «Sie war Deutsche und vielleicht sogar ein Nazi. Aber ich wollte nicht wie die Nazis sein und jemanden hassen, der mir nichts getan hat.»
«Europa steht kurz vor dem Scheitern»
Wenn man den Wahlschweizer vor wenigen Jahren gefragt hätte, wie er auf die Welt blickt, hätte er mit Zuversicht die Erreichung der Gleichberechtigung von Mann und Frau betont, die Bürgerrechtsbewegung in den USA gelobt und schliesslich die Tatsache, dass der mächtigste Mann der Welt dunkelhäutig ist, als Zeichen für eine weltoffene Menschheit gedeutet. «Doch heute, Ende 2016, antworte ich anders», so Graber. «Europa steht kurz vor dem Scheitern, in den USA übernimmt ein unberechenbarer weisser Mann die Macht und der Terrorismus ist weltweit auf dem Vormarsch.»
In der Schweiz beobachte er mit Sorge, dass die Ausländerfeindlichkeit zugenommen habe. Und der Abstimmungskampf der SVP stimmt ihn nachdenklich. «Gerade die Rechte verspricht oft allzu einfache Lösungen», sagt er. «Dazu trägt auch die Bildsprache der Wahlplakate bei, die mich manchmal stark an jene des Dritten Reiches erinnert.» Und auch die andere Seite des politischen Spektrums prangert Shlomo Graber an: «Erschreckend, dass sich auch linke Parteien immer mehr derselben Rhetorik und des Fanatismus bedienen.»
«Die meisten Menschen können Recht von Unrecht unterscheiden»
Dass Nationalstaaten mit Rechtspopulisten liebäugeln, dass eine Marine le Pen in Frankreich Ängste in der Bevölkerung wahrnimmt, anfacht, instrumentalisiert, dass in Österreich Norbert Hofer zwar nicht gewählt wird, aber trotzdem über 46 Prozent der Stimmen erhält, dass Ungarn Stacheldraht gegen Flüchtlinge hochzieht, dass die Alt-Right-Bewegung in den USA von der «Überlegenheit der weissen Rasse» predigt – all dies lässt den ältesten noch lebenden Schweizer Holocaust-Überlebenden trotzdem nicht resignieren. «Wenn ich etwas gelernt habe, dann dies: Die meisten Menschen tragen die Fähigkeit, Recht von Unrecht zu unterscheiden, in sich.»
Graber blickt auf das Foto seiner Mutter und Geschwister. Seit mehr als 70 Jahren spricht er immer wieder mit ihnen. «Ich hoffe, dass euer junger Tod nicht umsonst gewesen ist», so Shlomo Graber. «Ich hoffe, dass die Menschheit aus den Schrecken von damals etwas gelernt hat.»
Jeder Einzelne solle in sich hineingehen. Und sich nicht durch Versprechungen eines Paradieses im Jenseits verführen lassen. «Relevant ist nicht, was nachher kommt», sagt Shlomo Graber, «sondern wie wir uns in unserem Leben verhalten.»