Cedric Wermuth über die Schweiz und den Tod seiner Mutter
«Wir brauchen mehr empörte Schawinskis»

Der Aargauer SP-Nationalrat erklärt, warum die Schweiz von Nestlé und der Ems-Chemie regiert wird und warum es Sozialismus nicht à la carte gibt.
Publiziert: 27.12.2014 um 10:00 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 18:23 Uhr
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Auf Twitter beleidigend unterwegs: SP-Nationalrat Cédric Wermuth.
Foto: Mirko Ries
Interview: Christof Vuille und Ruedi Studer; Fotos: Mirko Ries

BLICK: Cédric Wermuth, wir sitzen in Ihrer WG in Baden. Nach welchem sozialistischen Modell funktioniert diese Gemeinschaft?
Cédric Wermuth:
Nach einem individualistischen. Die WG hat sich wegen meines Studentenbudgets aufgedrängt und bisher hatte ich keinen Grund, etwas zu ändern. Weil ich schweizerisch-italienischer Doppelbürger bin, wohnen fünf Nationalitäten – Kroatien, Frankreich, Spanien, Italien und die Schweiz – unter diesem Dach.

Bald leben Sie das SVP-Familienmodell. Wohnung in der Kleinstadt, mit Freundin und ab April mit Kind. Fehlt nur noch der Hund.
Meine Partnerin hätte tatsächlich gerne Hunde – im Gegensatz zu mir. Das müssen wir bilateral klären. Wir haben eine schöne Genossenschaftswohnung in Zofingen gefunden und ziehen im Juni ein. Wir wollen beide berufstätig bleiben und in der Erziehung zu gleichen Teilen Verantwortung übernehmen. Es wird wohl nicht einfach, die Organisation während der Sessionen hinzukriegen, aber vielleicht kann ich das Baby auch mal mit nach Bern nehmen.

Aus dem kiffenden Revoluzzer ist ein Finanzpolitiker geworden, der italienische Schuhe trägt und jetzt ins bürgerliche Leben eintaucht. Sie sind langweilig geworden.
Ich habe sicher einen politischen Reifungsprozess durchgemacht und spiele in einer anderen Arena als während des Juso-Präsidiums. Was nicht heisst, dass ich andere Positionen vertrete. Der Sprung nach Bern kam für mich sehr früh, vielleicht ging alles etwas schnell. Ich musste in den letzten drei Jahren viele Erfahrungen nachholen, mein Studium abschliessen. Von Januar bis März schreibe ich die letzten Prüfungen. Meine Lizenziatsarbeit über städtische Demokratie wurde schon angenommen.

2014 ist es ruhig geworden um Sie.
Ich arbeite heute stärker im Hintergrund, etwa als Co-Präsident der SP Aargau. Hinzu kommt, dass in meinem Umfeld viel passiert ist.

Sie sprechen vom Tod Ihrer Mutter.
Auch, ja. Sie ist im Mai gestorben. Das war ein brutaler Moment. Ich bin oft hin- und hergerissen zwischen Trauer und Wut.

Wie verdauen Sie den Verlust?
Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, die Ähnliches erlebt haben. Die Trauer kommt heute in Schüben. Hart sind Geburtstage oder Familientreffen, an denen sie fehlt.

Hat sich Ihr Verhältnis zur Religion verändert?
Nein, ich glaube auch jetzt nicht an Gott. Aber die Kirche bietet Rituale, die helfen, Abschied zu nehmen. Das anerkenne ich als kulturelle Leistung. Besonders der Pfarrerin und dem Pfarrer bin ich für die Begleitung sehr dankbar. Auch politische Gegner und Medien haben in dieser Zeit die Privatsphäre meiner Familie respektiert. Dafür möchte ich mich ebenfalls bedanken. 

Verlust, Nachwuchs, Studium. Sie haben privat ein bewegtes Jahr hinter sich. Auch politisch war der Paukenschlag vom 9. Februar wohl sehr aufwühlend für Sie.
Ja. Ich war am 9. Februar im Ausland und unterschätzte die Abstimmung über die Zuwanderungsinitiative genauso wie die ganze Linke.

Was heisst unterschätzt? Ihre Partei hat das Ja mit ihrem Gejammer um Lohndumping und Wohnungsnot, den Drohungen von Parteichef Christian Levrat gegen die Kroatien-Freizügigkeit erst ermöglicht.
Die SP hat den Fehler gemacht, die ganze Europa- und Arbeitsmarkt­frage unter das Segel der Migration zu setzen. Der politische Match entscheidet sich immer dadurch, wie man die Frage stellt. Wenn wir Löhne oder Mieten als Probleme der Migration darstellen, dann sehen da­rin viele Menschen einen Grund, Ja zu sagen zur SVP-Politik. Diese Position hätten wir intern stärker bekämpfen müssen. Die Mieten bestimmen die Vermieter, die Löhne die Arbeitgeber – nicht die eingewanderten Deutschen. Heute ist klar, dass rein taktische Argumentationen und Drohungen wie damals bei der Einführung der flankierenden Massnahmen nicht verfangen – der politische Diskurs ist zu weit nach rechts gerutscht.

Ist die SP in die Mitte gerutscht?
Verteilungspolitisch steht die Partei heute sicher weiter links. Noch vor zehn Jahren wäre eine offene Unterstützung der 1:12-Initiative parteiintern viel umstrittener gewesen. Und mit der Erbschaftssteuer-Initiative treiben wir die Debatte weiter voran. Inzwischen beschäftigt sich die SP sogar ernsthaft wieder mit Wirtschaftsdemokratie. Das sind grosse Fortschritte. Aus einer übertriebenen Wahlkampagnenlogik haben wir aber teilweise gesellschaftspolitische Fragen vernachlässigt. Der Einsatz für das Adoptionsrecht für Homosexuelle ist genauso wichtig wie jener für Mindestlöhne. Freiheit ist ein umfassendes Konzept – es gibt keinen Sozialismus à la carte.

Muss sich linke Politik verändern?
Wir haben am 9. Februar einen demokratischen Tollwutanfall erlebt; auch weil wir in den letzten Jahren den Kulturkampf gescheut haben. Die politische Mitte ist praktisch verschwunden, die Linke hat zu defensiv über Migration diskutiert, liess sich in die Defensive drängen.

Wir leben in einer Blocher-Schweiz, nicht einer Wermuth-Schweiz.
Das ist leider so. Die SVP hat als einzige Partei begriffen, dass sich Politik in langfristigen Zyklen entwickelt und sich nicht an einzelnen Sachfragen entscheidet. Die Rechte hat sich ihren Erfolg mit Niederlagen aufgebaut. Bei der zehnten Abstimmung war dann eine Mehrheit der Meinung, dass es im Bereich Migration Probleme gibt. Diese langfristige Aufbaulogik hat die Linke noch nicht verinnerlicht, wir denken zu kurzfristig nur von Abstimmungskampagne zu Abstimmungskampagne.

Was ist die Alternative?
Ich glaube, wir müssen Politik wieder mehr leben, nicht nur davon sprechen. Volksinitiativen lancieren und Vorstösse einreichen genügt nicht. Warum nicht einfach eigene Kindertagesstätten gründen, wenn es die Politik nicht hinkriegt? Selber Wohnbaugenossenschaften gründen, wenn die Politik keine Mieterpolitik machen will? In der Asylfrage gibt es heute bereits echte soziale Bewegungen. Beispielsweise die Kirchenbesetzung in Lausanne.

Ukip in England, AfD in Deutschland, Front National in Frankreich. Die EU ist in der Krise. Warum soll die Schweiz da dabei sein?
Die EU ist ein Projekt der Eliten. Das war die Schweiz 1848 auch und ist es in grossen Teilen immer noch, etwa in der Steuerpolitik. Der Kapitalismus braucht einen starken Staat, der die Akkumula­tion von Kapital sicherstellt. Und weil die Wirtschaft heute international ist, braucht es ­einen internationalen Staat. Für die Linke in einem herrschaftskritischen Verständnis war das schon immer ein Dilemma. Die neoliberale Wende ist eine Tatsache – dagegen müssen wir den Widerstand in ganz Europa führen. Auch in Brüssel – als Mitglied der EU. Heute entscheiden Nestlé und Ems-Chemie über unsere Zukunft. Wir haben nichts zu sagen.

Bis die Schweiz so weit ist, gibt es die EU vielleicht gar nicht mehr.
Das halte ich für eine grobe Fehleinschätzung. Der Point of no Return ist überschritten. Ein Zurück in den Nationalstaat hätte eine verheerende Wirkung für den ganzen Kontinent. Die Linke muss aus dieser Situation vorwärtsgehen in Richtung eines sozialen Europas.

Linke Appelle bewirken nichts?
Die Rechte hat eindeutig in vielen Fragen die Deutungshoheit übernommen. Sie bestimmt, was gut ist und was nicht. «Gutmenschen» werden heute negativ wahrgenommen. Unsere Gegner haben Begriffe wie «Asylanten» oder «Sozialschmarotzer» salonfähig gemacht. Auch der Begriff «Integration» hilft nur der Rechten. Er suggeriert, dass Migranten erst einmal Menschen mit Defiziten seien, die man zuerst nacherziehen müsse. So wird die Ausgrenzung gefördert. Da müssen wir wieder entschiedener dagegenhalten.

Die Linke befindet sich im ewigen Rückzugsgefecht. Mit der Burka-Initiative wird sie weiter in die Defensive gedrängt.
Wir müssen offensiver werden, aber ohne jeden politischen Blödsinn mitzumachen. Die Linke diskutiert zu viel über Details – im Gegensatz zur SVP. Die SVP ist so stark, weil sie eine «positive» Vision hat: zurück in eine heile Schweiz – die es nie gab. Sie zeichnet das Bild eines Landes, in dem die Menschen weiss, alle Familien glücklich sind und keiner schwul ist.

Das schafft nationale Identität. Welche Identität haben Sie?
Wenn der Zug drei Minuten Verspätung hat, werde ich nervös. Ich bin also extrem schweizerisch. Ich bin dankbar dafür, hier geboren zu sein. Aber ich bin nicht stolz, Schweizer zu sein, und auch kein Patriot. Denn ich habe nichts dafür getan, hier geboren zu werden. Ich bin Internationalist. Mir ist das Schicksal eines Schweizers nicht näher als jenes eines Franzosen oder Eritreers. Ich habe deshalb auch Mühe mit dem wirtschaftspolitischen Nationalismus – Standortpolitik nennt man das dann – welche teilweise auch die Linke betreibt. Was daran gut sein soll, eine Firma in die Schweiz zu holen, die anderorts gleichzeitig  Leute entlässt, erschliesst sich mir nicht. 

Beschäftigt Sie die Islam-Frage, die derzeit stark durch die IS-Debatte geprägt wird?
Und durch Andreas Thiel (lacht). Die Frage beschäftigt mich in ihrer Absurdität. Sprengt ein Muslim irgendwo auf der Welt eine Bombe in die Luft, ist der Islam schuld – ermorden aber deutsche Nazis mit Hilfe aus der Schweiz Türken, sind das bedauerliche Einzelfälle. Mit unserer Gesellschaft und Kultur hat das – glaubt man der öffentlichen Debatte – anscheinend nichts zu tun. Es kommt doch niemandem in den Sinn, die CVP dafür zu kritisieren, dass in der Bibel Menschen umgebracht werden. Bei Muslimen ist klar: Es steht so im Koran, also müssen die töten. Ausgerechnet der «Liberale» Andreas Thiel spricht den Menschen den eigenen Willen ab. Eine bescheuerte Debatte!

Das Thema brennt den Leuten einfach unter den Nägeln.
Wir sollten aufhören Politik zu machen, weil irgendwo irgendwer vor irgendeinem Gespenst Angst hat, zum Beispiel der Islamisierung. Die SVPisierung sollte uns Angst machen. Schawinski hat richtig reagiert: Das Problem ist, dass wir die Politik gegen die Menschenrechte zu lange emotionslos hingenommen haben. Damit hat man ihr eine Legitimation verschafft – wir brauchen mehr empörte Schawinskis, nicht weniger.

Wermuth, der linke Wutbürger?
Wut ist ein zentraler Antriebsfaktor für mein politisches Engagement. Ich kann rational über Finanz- oder Wirtschaftspolitik diskutieren, aber ich kann nicht emotionslos bleiben, wenn Homosexuelle diskriminiert, die Religionsfreiheit beschnitten oder die Flüchtlinge kriminalisiert werden. Es ist plötzlich wieder legitim, Menschen wegen dessen, was sie sind, als minderwertig zu behandeln. Das ist ein Schritt zurück – und das macht mir Angst.

Nehmen wir einmal an: Ihr Kind hängt als junger Erwachsener Blocher-Poster in seinem Zimmer auf und wählt die rechte SVP. Wie reagieren Sie?
Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass es einmal so kommt. Wenn doch, würde ich es respektieren und akzeptieren – aber nicht kampflos!

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