BLICK: Wir forderten gestern die in der Schweiz lebenden Türken dazu auf, für demokratische Werte einzustehen und Nein zur Verfassungsänderung zu stimmen.
Die Titelseite des BLICK und die Haltung Ihrer Zeitung sind ausgezeichnet. Die Idee, den türkischen Stimmbürgern, die in der Schweiz leben, zu erklären, was ihre Heimat im Begriff ist zu tun, unterstütze ich sehr.
Inwiefern?
Diese Verfassungsänderung ist einzigartig in der Geschichte. Wir von der Richtervereinigung haben so etwas noch nie erlebt. Ein solch massiver Umsturz eines demokratischen Systems in eine brutale Diktatur. Erdogan macht damit die demokratischen Errungenschaften Europas von 200 Jahren innerhalb von zwei Jahren zunichte. Ich bin versucht, eine Türkei nach der Verfassungsänderung nur noch mit Nordkorea zu vergleichen. Mit dem Unterschied, dass die Türkei bisher ein demokratischer Rechtsstaat war.
Was ist das Hauptproblem?
Mit diesem Verfassungsreferendum wird praktisch eine Alleinherrschaft des Präsidenten eingeführt. Bei einer Annahme kann er Minister ernennen, das Parlament auflösen und noch mehr direkten Einfluss auf die Justiz ausüben. Über ein Drittel aller Richter und Staatsanwälte sitzt bereits jetzt hinter Gittern oder wurden entlassen. Das sind rund 4000 Leute. Ich mache mir derzeit grosse Sorgen um sechs türkische Kollegen, die ich von der Richtervereinigung kenne. Sie wurden inhaftiert und jeglicher Kontakt zu ihnen ist abgebrochen. Wir haben keine Ahnung, wo und unter welchen Haftbedingungen sie im Moment sind.
Erdogans Unterstützer argumentieren damit, dass auch Frankreich oder die USA ein Präsidalsystem habe.
In diesen Demokratien gibt es das sogenannte «Checks and Balances», die einzelnen Institutionen können einander also kontrollieren und bremsen. So konnten Richter die Umsetzung des Einwanderungsdekrets von Präsident Trump stoppen.
Als Bundesrichter ist es sehr ungewöhnlich, sich derart pointiert zu äussern.
Ich weiss, dass meine Aussagen heikel sind. Aber ich konnte nicht länger schweigen. Aus rechtsstaatlichen Überlegungen ist die Entwicklung in der Türkei einfach furchtbar. Da geht vor den Toren Europas etwas vonstatten, das man öffentlich machen muss. Die kritische Presse ist ausgeschaltet. Deshalb gibt es gar keine demokratische Auseinandersetzung mit der Abstimmungsvorlage. Wer dagegen ist, wird als Nazi, Terrorist oder Landesverräter verunglimpft.
Europa sei türkeifeindlich, behauptet Präsident Erdogan.
Darum meine Botschaft an die Türken: Es geht darum, neutral zu informieren. Europa ist keinesfalls gegen die Türkei und ihre Bewohner. Es geht bei dieser Verfassungsänderung um europäische Grundwerte. Wenn das türkische Regime darauf so heftig reagiert, muss man feststellen: Es kann doch nicht sein, dass die ganze Welt Feind der Türkei sein soll. Wenn die türkische Führung so etwas behauptet, appelliert sie mit falschen Aussagen an die Gefühle der Türken. Wir müssen feststellen: Ihr werdet missbraucht! Eine kleine Gruppe will Grundwerte, welche die Türkei bisher mit anderen europäischen Ländern geteilt hat, aushebeln. Darum geht dieses Referendum uns alle an.
Thomas Stadelmann (58) war von 2007 bis 2010 Richter am Bundesverwaltungsgericht, 2009 wählte ihn die vereinigte Bundesversammlung zum Bundesrichter. Das CVP-Mitglied ist in der europäischen Richtervereinigung für die Türkei zuständig und hat seit Mitte 2016 rund 2500 Tweets zur Situation in der Türkei verfasst. Zudem bloggt er regelmässig zum Thema unter http://tsjustice.info/wordpress/
Thomas Stadelmann (58) war von 2007 bis 2010 Richter am Bundesverwaltungsgericht, 2009 wählte ihn die vereinigte Bundesversammlung zum Bundesrichter. Das CVP-Mitglied ist in der europäischen Richtervereinigung für die Türkei zuständig und hat seit Mitte 2016 rund 2500 Tweets zur Situation in der Türkei verfasst. Zudem bloggt er regelmässig zum Thema unter http://tsjustice.info/wordpress/