Die Ohrfeige war schmerzhaft, genützt hat sie nichts. Zwei Tage, nachdem die Wirtschaftsverbände bei der Unternehmenssteuerrefom (USR) III vom Volk abgestraft wurden, verschickte der Schweizerische Arbeitgeberverband ein 47 Seiten starkes Dokument an alle bürgerlichen Nationalräte. Thema: die Altersreform 2020, über die ab übermorgen Dienstag im Parlament entschieden wird.
Unterzeichnet ist das Papier, das SonntagsBlick vorliegt, von Martin Kaiser (50), dem Sozialversicherungsexperten der Arbeitgeber. Der freisinnige Jurist schwört die Nationalräte nochmals darauf ein, an ihrer Lösung festzuhalten (siehe Box). Er weiss, worum es geht: Praktisch alle Vorschläge des Nationalrats stammen unmittelbar aus seiner Feder.
So farbig wie die Abstimmungsknöpfe
Kaiser verlangt damit von FDP und SVP, weiterhin den Briefträger für ihn zu spielen. Sie sollen «zwingend» dafür sorgen, dass das AHV-Alter in den kommenden Jahren über eine Schuldenbremse auf 67 Jahre steigt. Sie sollen sicherstellen, dass die Mehrwertsteuer nur um 0,6 statt um ein Prozent erhöht wird, was für die Finanzierung der AHV nicht ausreicht. Vor allem aber sollen sie garantieren, dass als Ausgleich für die Kürzung in der zweiten Säule nicht die AHV-Renten erhöht werden, wie das der Ständerat vorschlägt. All dies ist im Sinne der Arbeitgeber, denn Lohnbeiträge für die Altersvorsorge und Mehrwertsteuer sind Kosten.
Kaiser geht auf Nummer sicher: Für jeden einzelnen Gesetzesartikel hält er fest, wie die Parlamentarier stimmen sollen. Und damit sich ja niemand in der komplexen Materie verirrt, sind die Positionen so eingefärbt wie die Knöpfe der Abstimmungsanlage: grün und rot.
Einblick in die Feinmechanik
Es ist nicht das erste Mal, dass Interessenvertreter versuchen, mit Hilfe von «Entscheidungshilfen» die Gesetzgebung zu beeinflussen. Souffleure wie Soufflierte behalten diese Geschäftsbeziehungen gern für sich: Die Öffentlichkeit soll davon nichts mitbekommen. Kaisers Papier aber gibt nun einen einmaligen – und schockierenden – Einblick in die Feinmechanik der Bundespolitik.
Die 47 Seiten lassen keinen Zweifel aufkommen, was Kaiser von den bürgerlichen Nationalräten erwartet: «Nebst weiter aufrechtzuerhaltenden Differenzen gemäss Liste sind auch Einzelanträge notwendig», schreibt er. Sein Ton ist fordernd: «Unsere Zustimmung hängt vom Endresultat der Behandlungen ab. Wird eine Lösung gefunden, welche die Interessen der beiden Spitzenverbände gebührend berücksichtigt, tragen wir den Vorschlag mit.»
«Das Lobbying ist unerträglich»
Hier wird das Primat der Politik dreist in Frage gestellt: Es ist Sache des Parlaments, Gesetze zu machen, und zwar ohne «Zustimmung» von Verbänden. Zwar gibt es gemäss Staatsrechtler Rainer Schweizer (73) keine Regeln, die den Lobby-Einfluss beschränken. «Im viel gelobten Milizsystem sind Parlamentarier zudem angewiesen auf das Fachwissen der Verbände», sagt er. Verbände aber stünden nicht im Dienst des Gemeinwohls. «Sie vertreten Partikularinteressen.» Zielführend wäre daher, die eigene Meinungsbildung von Parlamentariern zu fördern, etwa mit dem Ausbau von unabhängigen Parlamentsdiensten.
Bei manchem Adressaten kommt diese Befehlsausgabe nach dem USR-III-Debakel denkbar schlecht an. «Das Lobbying der Wirtschaftsverbände ist unerträglich», empört sich SVP-Mann Ulrich Giezendanner (63). Zu behaupten, dass keine Reform besser sei als der Vorschlag des Ständerats, sei «einfach nur dumm». Er wie andere SVPler, aber auch die Grünliberalen haben im BLICK bereits angekündigt, notfalls die Erhöhung der AHV um 70 Franken monatlich zu schlucken. Dann hätte Kaiser verloren.
Eine persönliche Fehde?
Vom Kämpfen hält ihn das nicht ab. Insider sind überzeugt, dass es Kaiser in seinem «missionarischen Wirken» schon längst nicht mehr um die Reform an sich geht. Was ihn antreibe, sei eine persönliche Fehde mit Jürg Brechbühl (60), dem Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen. Kaiser hatte selbst auf den Chefposten gehofft, kam unter SP-Sozialminister Alain Berset aber nicht in die Kränze. «Das hat ihn verletzt», sagt jemand aus seinem Umfeld. Nun habe er sich in den Schützengraben begeben und finde nicht mehr heraus.
Kaiser quittiert solche Aussagen mit einem Lachen: «Ich mache einfach meinen Job. Motiviert, mit Freude. Mich interessieren Fakten, was offenbar einige stört.» Der Arbeitgeberverband setze sich für eine Reform ein, die die Renten auf heutigem Niveau sichere und für eine gesunde AHV sorge. «Dieses Ziel verfehlt der Ständerat klar.»
Letzte Chance bei Cüpli und Diner
Das sieht Christine Egerszegi (68) anders. Die alt Ständerätin aus dem Aargau ist eine der Architektinnen der Ständeratsvariante – und wie Kaiser FDP-Mitglied. Umso mehr ärgert sie sich über dessen Sturheit: «Die Altersreform ist ein Prestigeprojekt des Arbeitgeberverbandes. Leider hat man sich dort aus ideologischen Gründen völlig verrannt.»
Kaiser jedenfalls wird kämpfen bis zur letzten Minute: 13 Stunden, bevor die AHV-Schlacht im Nationalrat losgeht, empfangen Arbeitgeberverband und Economiesuisse die Parlamentarier zu Cüpli und Diner im Nobelhotel Bellevue. «Ich werde Fakten aufzeigen und erklären, warum die Finanzierung der Altersvorsorge mit der Lösung der nationalrätlichen Kommission gesichert ist», sagt Kaiser.
Er meint: mit seiner.
Wir leben immer länger – und bekommen immer länger eine Rente. Um die zu bezahlen, reicht die aktuelle Finanzierung der Altersvorsorge nicht mehr aus. 2013 hat die AHV erstmals mit einem Defizit abgeschlossen. Auch die Pensionskassen sind unter Druck, weil auf dem Kapitalmarkt, wo die Beiträge der Versicherten angelegt werden, nicht genug Rendite zu holen ist. Darum ist es nötig, die Altersvorsorge zu reformieren. Das soll mit drei Massnahmen geschehen: mit der Anhebung des Frauenrentenalters auf 65, einer Erhöhung der Mehrwertsteuer und einer Senkung des Umwandlungssatzes. Dieser bestimmt, wie viel Rente man jährlich aus dem angesparten Geld in der zweiten Säule bekommt. Derzeit liegt er bei 6,8 Prozent. Ein Pensionskassenguthaben von 100'000 Franken ergibt damit eine Rente von 6800 Franken pro Jahr. Die geplante Senkung auf sechs Prozent bedeutet, dass die Renten aus der zweiten Säule um zwölf Prozent sinken. Der Ständerat schlägt vor, im Gegenzug die AHV-Renten um 70 Franken pro Monat zu erhöhen. Der Nationalrat hat sich gegen diesen AHV-Zustupf bisher gesperrt.
Im zähen Ringen zwischen Ständerat und Nationalrat sieht es aktuell so aus, als würde sich der Ständerat durchsetzen.
Wir leben immer länger – und bekommen immer länger eine Rente. Um die zu bezahlen, reicht die aktuelle Finanzierung der Altersvorsorge nicht mehr aus. 2013 hat die AHV erstmals mit einem Defizit abgeschlossen. Auch die Pensionskassen sind unter Druck, weil auf dem Kapitalmarkt, wo die Beiträge der Versicherten angelegt werden, nicht genug Rendite zu holen ist. Darum ist es nötig, die Altersvorsorge zu reformieren. Das soll mit drei Massnahmen geschehen: mit der Anhebung des Frauenrentenalters auf 65, einer Erhöhung der Mehrwertsteuer und einer Senkung des Umwandlungssatzes. Dieser bestimmt, wie viel Rente man jährlich aus dem angesparten Geld in der zweiten Säule bekommt. Derzeit liegt er bei 6,8 Prozent. Ein Pensionskassenguthaben von 100'000 Franken ergibt damit eine Rente von 6800 Franken pro Jahr. Die geplante Senkung auf sechs Prozent bedeutet, dass die Renten aus der zweiten Säule um zwölf Prozent sinken. Der Ständerat schlägt vor, im Gegenzug die AHV-Renten um 70 Franken pro Monat zu erhöhen. Der Nationalrat hat sich gegen diesen AHV-Zustupf bisher gesperrt.
Im zähen Ringen zwischen Ständerat und Nationalrat sieht es aktuell so aus, als würde sich der Ständerat durchsetzen.