Donnerstagmittag, kurz nach 13 Uhr, oberhalb von Meilen am Zürichsee. In der Ferne glitzern die Glarner Alpen. Auf dem Parkplatz der Klinik Hohenegg blinzelt Natalie Rickli in die Januarsonne. Sie trägt Jeans, dazu einen pinkfarbenen Blazer, darüber eine schwarze Daunenjacke. Die 36-Jährige sieht erholt aus.
Seit fünf Monaten spricht sie zum ersten Mal wieder mit Journalisten. Im SonntagsBlick will sie erzählen, wie ein Burnout sie zum Rückzug zwang. Was sie aus dem Zusammenbruch gelernt hat. Und wie sie ihre politische Zukunft sieht.
Seit den Parlamentswahlen im Oktober 2011 war Natalie Rickli das neue Aushängeschild der SVP. Damals erhielt sie die meisten Stimmen im Land überhaupt und überholte sogar Christoph Blocher.
Dann, am 13. September 2012, der Schock: Auf Facebook gab Natalie Rickli bekannt, sie leide an einem Burnout und bleibe deshalb der Herbstsession des Parlaments fern. Eine weitere Nachricht verschickte sie am 21. November: Sie werde auch im Dezember nicht nach Bern zurückkehren.
Jetzt fühlt sich die Winterthurerin wieder gesund genug für ein Comeback.
Frau Rickli, wie geht es Ihnen?
Natalie Rickli: Es geht mir gut, danke!
Anfang September 2012 verschwanden Sie von der Bildfläche, Mitte September gaben Sie auf Facebook bekannt, dass Sie an einem Burnout leiden. Was ist passiert?
Das Burnout kam schleichend. Rückblickend weiss ich, dass mein Körper die letzten zwei, drei Jahre Signale in Form von gesundheitlichen Problemen ausgesendet hat. Ich habe diese aber nicht ernst genommen. Lange dachte ich, es wird schon wieder, ich gehe jetzt noch an diese Sitzung, an jene Veranstaltung, beantworte noch dies und das, erledige noch Büroarbeiten. Ich glaubte immer, dass wieder ruhigere Zeiten kommen.
Aber die kamen nicht. Gegen welche gesundheitlichen Probleme kämpften Sie?
Ich hatte seit einigen Jahren Schlafstörungen. Es fing mit einer, dann mit zwei schlaflosen Nächten an. Ich habe das nicht wirklich wahr- und ernst genommen. Irgendwann konnte ich mehrere Wochen nicht mehr schlafen und war entsprechend erschöpft. Weil ich mich nachts nicht erholen konnte, bekam ich Nackenschmerzen. Die wurden chronisch. So setzte eine eigentliche Abwärtsspirale ein.
Welche Rolle spielte der Politikbetrieb, der immer hektischer wird?
Das habe ich nicht unbedingt so empfunden. Was mich aber in den letzten zwei Jahren frustriert hat, ist die Tatsache, dass demokratische Volksentscheide nicht umgesetzt werden. Das Schweizer Volk hat im November 2010 Ja gesagt zur Ausschaffungsinitiative. Passiert ist bis heute nichts, im Gegenteil. Die SVP musste in der Zwischenzeit eine zweite Initiative einreichen. Da fragt man sich schon, für was man sich Abend für Abend einsetzt. Die Stimmbürger fühlen sich machtlos. Auch als Nationalrätin hatte ich das Gefühl, gegen Windmühlen anzutreten.
Wann haben Sie gemerkt, dass diese Probleme in einem Burn-out enden?
Ich wollte es lange nicht wahrhaben. Letztes Jahr habe ich gemerkt, dass etwas nicht mehr stimmt mit mir. Wegen der Schlaflosigkeit und der Nackenschmerzen war ich erschöpft. Dazu kamen Konzentrationsprobleme und Niedergeschlagenheit. Das Gefühl, die Kontrolle über mich selbst zu verlieren. Trotzdem habe ich immer weitergemacht und versucht, mir nichts anmerken zu lassen, keine Schwäche zu zeigen. Dann kamen Schicksalsschläge und Krankheiten im persönlichen Umfeld dazu. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Ich, die immer alles im Griff hatte, konnte irgendwann weder für mich noch für andere da sein. Ende August hatte ich einen Nervenzusammenbruch. In diesem Moment bin ich in die Klinik eingetreten.
Wie lange blieben Sie in der Klinik?
Zweieinhalb Monate.
Wie war es für Sie, in einer Burn-out-Klinik zu sein?
Schwierig, sehr schwierig. Am Anfang hatte ich das Gefühl, total versagt zu haben. Heute weiss ich, dass es der richtige Entscheid war. Ich hätte wohl weitermachen können bis zum nächsten Zusammenbruch. Die ersten zwei Wochen in der Klinik waren besonders belastend, weil ich wusste: Ich sollte bald in die Session. Wie und was kommuniziere ich?
Wie ging es nach den zweieinhalb Monaten in der Klinik weiter?
Ich brauchte Distanz. Ich wollte in Ruhe gesund werden. Ohne dass ich in der Öffentlichkeit erkannt werde. Deshalb weilte ich zwei Monate im Ausland. Zuerst zur Kur, und dann habe ich mir noch etwas Ferien gegönnt.
Was half Ihnen, wieder gesund zu werden?
Das ist eine Kombination verschiedener Dinge. In der Klinik habe ich gelernt, dass ich für mich Zeit nehmen darf. Ich verstehe jetzt, warum es so weit gekommen ist – und dass ich etwas ändern musste. Dazu halfen mir verschiedene Therapien. Wichtig waren die Mitpatienten: Ich sah, dass es anderen Leuten ähnlich geht, und fühlte mich verstanden. Der Anfang war extrem schwierig. Aber es gab auch lustige Momente.
Zum Beispiel?
Ich habe endlich jassen gelernt (lacht)!
Was half Ihnen sonst noch?
Die Natur rund um die Klinik Hohenegg ist traumhaft. Oberhalb des Zürichsees, unterhalb des Pfannenstiels. Ich unternahm viele Spaziergänge, ging walken und joggen. Mein Freundeskreis war ebenfalls eine grosse Stütze für mich. Auch meine Wählerinnen und Wähler gaben mir Kraft. Ich habe viele positive Zuschriften erhalten. Es tat gut zu wissen, dass sie mich unterstützen und sich auf meine Rückkehr freuen.
Was tun Sie, damit Sie nicht wieder krank werden?
Ich muss für einen besseren Ausgleich sorgen, mehr Sport treiben und an die frische Luft gehen. Einmal einen Abend Zeit nur für mich nehmen. Das gab es früher bei mir kaum. Diese Zeit muss ich mir jetzt freischaufeln. Das bedeutet, dass ich künftig an etwas weniger politischen Veranstaltungen teilnehmen werde und als Vizepräsidentin der Nationalrats-Fraktion zurücktrete.
Verlieren Sie damit nicht Ihren Status als Aushängeschild der Partei?
Der Entscheid fiel mir nicht leicht. Ich habe alles immer gerne gemacht. Aber wenn ich nichts ändern würde, hätte ich ja nichts gelernt. In der Vergangenheit habe ich selten Nein gesagt, war immer zur Stelle. Ich weiss, dass ich mit etwas weniger Auftritten immer noch überdurchschnittlich viel mache.
Sie waren 24 Stunden erreichbar. Werden Sie das ändern?
Ich versuche es, aber ich weiss, dass es nicht einfach wird. Ständig online zu sein, war für mich bisher selbstverständlich. Aber ich weiss jetzt, dass es ungesund ist. Man braucht zwischendurch eine handyfreie Zeit. Zum Beispiel am Sonntag. Wenn dieses Interview erscheint, bin ich ohne Handy unterwegs.
Christoph Blocher und andere ältere SVP-Politiker kritisieren, die Jungen seien «süchtig» nach den neuen Kommunikationsmitteln ...
Das Internet ist in der politischen Kommunikation nicht mehr wegzudenken. Einige dieser Herren machen es sich zu einfach. Nur wenige in der Partei kommunizieren via Facebook und Twitter mit ihren Wählern. So kann man aber die SVP-Politik Tausenden von Wählern näherbringen. Wer die neuen Kanäle nutzt, erhält Hunderte von E-Mails und Facebook-Nachrichten; und man wird kontaktiert, wenn die Partei etwas kommuniziert. Aber ich gebe zu, dass ein Suchtpotenzial besteht und die meisten, die aktiv sind, hier die Balance finden müssen – auch ich. Aber die Zukunft liegt für mich in der Internetnutzung mit Mass. Es ist ja alles eine Frage des Masses.
Ihr Parteikollege Christoph Mörgeli polemisierte vor Jahren, Burnout sei ein FDP-Syndrom – nun erlitt ausgerechnet der Shootingstar seiner Partei ein solches.
Sie sehen: Auch Professoren haben nicht ausgelernt. Im Übrigen hat mich Christoph Mörgeli in dieser Zeit immer unterstützt.
Die SVP hat immer wieder Stimmung gemacht, zum Beispiel gegen Scheininvalide. Und Sie selber traten immer wieder sehr hart auf, zum Beispiel im Abstimmungskampf zur Ausschaffungsinitiative. Bereuen Sie das heute?
Ich war immer hart in der Sache, aber fair im Umgang. Ich habe mich nie negativ über Kranke geäussert. Im Gegenteil. Ich habe immer gesagt, dass der Staat für die Menschen da sein soll, die nicht mehr für sich selbst sorgen können. Dafür bezahlen wir ja schliesslich in die Sozialversicherungen ein. Gegen Scheininvalide bin ich heute noch. Unter dem Missbrauch leiden die Kranken am meisten.
Die Politikerin Rickli ist also nach dem Burnout die gleiche wie davor?
Ich werde meine Politik sicher nicht ändern. Trotzdem hat mich das Geschehene geprägt, und ich habe sehr, sehr viel gelernt.
Ihr Fall sowie der Rücktritt von SVP-Nationalrat Peter Spuhler warfen die Frage auf, wie sinnvoll das Schweizer Milizsystem noch ist. Ist die Belastung unserer Politker zu hoch, wenn sie noch einen Job haben?
Das Milizsystem ist wichtig. Es bedeutet, dass unsere Politiker mit beiden Beinen auf dem Boden stehen und Verständnis für die Wirtschaft haben. Aber einen Beruf zu haben und zu politisieren, ist sicher anstrengend.
Sie sind im Kader von Goldbach Media. Werden Sie dort weiterarbeiten?
Ja, ich werde kommende Woche wieder einsteigen. Meine Firma hat mich in dieser Zeit voll unterstützt. Dafür bin ich dankbar. Das ist nicht selbstverständlich. In den letzten Monaten hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Mir ist bewusst geworden, dass ich nach dem Schulabschluss, also seit 21 Jahren, in der Privatwirtschaft tätig bin. Vor 17 Jahren bin ich in die Politik eingestiegen, seit elf Jahren Mitglied eines Parlaments. Vielleicht werde ich mich irgendwann auf den Beruf oder die Politik konzentrieren.
Heisst das, Sie kandidieren 2015 für den Ständerat oder 2014 für den Winterthurer Stadtrat, wie immer wieder spekuliert wird?
Fragen Sie mich doch Ende Jahr nochmals.
Haben Sie Bedenken, künftig auf Ihr Burnout reduziert zu werden?
Die Gefahr besteht. Ich nehme jetzt dazu Stellung in zwei Interviews, heute bei Ihnen und am Montag in der Gesundheitssendung «Puls» auf SRF 1. Danach steht wieder die Politik im Vordergrund. Daran soll man mich messen.
Welche politischen Dossiers packen Sie an?
Zuerst stehen für mich die Sachgeschäfte in der Rechtskommission und der Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen im Vordergrund. Bald wird über die Frage entschieden, wofür die 67 Millionen Billag-Gebühren, die auf einem Konto in Bundesbern liegen, verwendet werden. Ich werde mich dafür einsetzen, dass dieses Geld den Gebührenzahlern rückerstattet wird. Ein erster Vorstoss von mir scheiterte ja leider im Nationalrat. In der Frühjahrssession wird zudem über meinen Vorstoss abgestimmt, wonach Verwahrte keinen Hafturlaub mehr erhalten sollen.
Werden Sie sich in den Abstimmungskampf um die Abzocker-Initiative einschalten?
Nein, ich werde mich jetzt auf die Kommissionsarbeit konzentrieren und dann die Frühjahrssession vorbereiten. Dann werde ich mich auf die Abstimmungen im Juni zur «Volkswahl des Bundesrates» konzentrieren. Die Schweizerinnen und Schweizer haben dann die historische Möglichkeit, ihre sieben Bundesräte selber zu wählen. Dann endlich wäre der Bundesrat dem Volk Rechenschaft schuldig.