Alt Bundesrätin Ruth Dreifuss kritisiert die aktuelle Asyl-Debatte
«Das Volk wäre bereit, mehr Flüchtlinge aufzunehmen»

SP-Politikerin Ruth Dreifuss spricht im Interview mit BLICK über die aktuelle Asyl-Debatte. Die ehemalige Bundesrätin, die 1999 mit der Flüchtlingswelle aus dem Balkan konfrontiert war, bringt neue Lösungsvorschläge.
Publiziert: 25.08.2015 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 12.10.2018 um 17:57 Uhr
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«Indem die Politik versucht, unser Land immer unattraktiver für andere zu machen, wird die Schweiz auch immer weniger gemütlich für uns selbst.»
Foto: Karl-Heinz Hug
Interview: Christoph Lenz

BLICK: Sie waren 1999 Bundespräsidentin, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle aus dem Balkan. Heute erlebt die Schweiz wieder eine äusserst scharfe Asyldebatte. Was halten Sie davon?
Ruth Dreifuss:
Die Debatte ist total unverhältnismässig. Wir haben grössere Probleme im Land, die viel mehr Leute direkt betreffen.

Wo sehen Sie die Unterschiede zwischen heute und 1999?
Damals war die Situation sehr angespannt. Wir hatten doppelt so viele Asylgesuche wie heute. Das zeigt: Die aktuelle Flüchtlingswelle ist gut zu bewältigen.

Das von der SVP beschworene Asylchaos existiert nicht?
Nein, sicher nicht. Sicher nicht!

Aber viele Behörden sind überfordert. Die Luzerner Regierung fordert eine strengere Asylpraxis. Flüchtlinge wohnen in Zelten. Das ist doch dramatisch.
Natürlich, praktische Probleme müssen gelöst werden. Aber wir haben genügend Unterkünfte. Kasernen, Klöster, Ferienkolonien, im Notfall und für kürzere Zeiten sogar Zivilschutzanlagen. Es braucht Zeit, diese Orte bewohnbar zu machen. Aber das Boot ist nicht voll!

1995 haben Sie den Vorwurf erhoben, der Bundesrat habe während des Zweiten Weltkriegs Juden abgewiesen, weil er der Bevölkerung die Aufnahmebereitschaft nicht zutraute. Unterschätzen die Behörden auch heute das Volk?
Davon bin ich überzeugt. Das Volk wäre bereit, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Gerade aus Syrien. Jeder versteht die Bilder, die uns aus Syrien erreichen. Sie zeigen, dass dort kein menschenwürdiges Leben möglich ist.

Simonetta Sommarugas Justizdepartement will über drei Jahre 3000 Syrien-Flüchtlinge aufnehmen. Zu wenig?
Das ist wenig. Es gibt so viele Leute, die eine Zuflucht brauchen. Jetzt! Sie würden wieder in ihre Heimat zurückkehren, sobald es die Lage erlaubt.

Die meisten Flüchtlinge kommen aber aus Eritrea. Es ist umstritten, ob diese überhaupt berechtigte Asylgründe haben. Wie beurteilen Sie die Situation?
Viele Eritreer erhalten kein Asyl. Sie werden nur vorläufig aufgenommen, weil man sie mit einer Rückschaffung grossen Gefahren aussetzen würde. Zwangsarbeit, Folter, Tod. Das wahre Problem ist, dass die SVP alle vier Jahre das Asylproblem hochspielt. 1999 waren es die Albaner, jetzt diffamiert man die Eritreer. Als kämen die nur aus Bequemlichkeit in die Schweiz. Um unser System zu missbrauchen.

Auch CVP und FDP sehen Handlungsbedarf. Sie fordern Verschärfungen wie Arbeitszwang und Bargeldverbot für Asylbewerber.
Ich bin immer bereit, Ideen unvoreingenommen zu prüfen. Doch im Moment ist das Augenmass in der Asylfrage komplett verloren gegangen. Die meisten Vorschläge, die man hört, sind sinnlos oder ineffizient. Grenzen dichtmachen? Die Leute kommen trotzdem. Asylmoratorium? Die Leute kommen trotzdem. Das Mittelmeer schliessen? Ja, das ist total einfach. Warum löffeln wir das Mittelmeer nicht einfach aus? Dann würde niemand mehr ertrinken!

Verschärfungen können eine abschreckende Wirkung haben.
Die Geschichte zeigt doch, dass sich ein Migrationsstrom nie einfach so stoppen liess. Weder von Mauern, noch von der Polizei, noch von der Armee. Dass SVP, FDP und CVP trotzdem Asylverschärfungen fordern, betrübt mich. Indem die Politik versucht, unser Land immer unattraktiver für andere zu machen, wird die Schweiz auch immer weniger gemütlich für uns selbst.

Dann haben die Bürgerlichen gar keine guten Ideen?
Doch. Wir sollten die Flüchtlinge rascher in die Arbeit bringen. Denn Arbeit heisst Würde, heisst Unabhängigkeit. Wir müssen die Arbeitsmarkthürden niederreissen. Etwa die Bewilligungspflicht: Ein Arbeitgeber will doch nicht auf eine Bewilligung warten, wenn er einen Flüchtling anstellen will.

Sollen die Flüchtlinge über ihr Verdienst frei verfügen können?
Ja, wobei auch die Sozialhilfe entlastet werden muss. Gerade bei den oft sehr gut ausgebildeten Flüchtlingen aus Syrien hoffe ich, dass sie rasch in ihrem Beruf arbeiten können. Um schneller auf eigenen Beinen stehen und der Schweiz etwas zurückgeben zu können. Die Schweiz kann es sich nicht leisten, die Fähigkeiten dieser Leute brachliegen zu lassen.

Viele Menschen sind sehr betroffen über die Ereignisse im Mittelmeer. Wäre es nicht nachhaltiger, das Flüchtlingsproblem in den Herkunftsstaaten zu lösen?
Ich teile die grosse Trauer darüber, was an den Grenzen Europas geschieht. Auf Lampedusa, in Ceuta, auf den griechischen Inseln. Es gibt hier keine einfachen Lösungen. Es braucht Polizei, um den Schleppern das Handwerk zu legen. Es braucht Verhandlungen mit den Regierungen der Ursprungsländer. Es braucht Frieden und Entwicklung. Aber auch Wege, um direkt an der Quelle der Migrationsströme zu handeln, etwa durch eine Wiedereinführung des Botschaftsasyls. Nicht zuletzt braucht es eine bessere Verteilung der Flüchtlinge in Europa.

Gerade hier ist die EU nicht zu Lösungen fähig.
Das ist für mich auch eine grosse Enttäuschung. Die EU hat 2015 zwei Probleme nicht im Zeichen der Solidarität angepackt: Griechenland und das Flüchtlingsproblem.

Was schliessen Sie daraus?
Dass wir mehr EU brauchen. Nicht weniger EU. Mehr Solidarität, mehr gemeinsame Regeln, mehr gemeinsames Anpacken der Probleme.

Die erwähnten Fälle zeigen doch gerade, dass die Solidarität in der EU ausgereizt ist?
Nein. Wir befinden uns einfach in einer Phase der EU, in der nationale Egoismen überwiegen. Das Projekt Europa ist noch nicht ausgereift.

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