Berner Chefapotheker warnt
Lieferengpässe bei 500 Medikamenten – «für Patienten bedrohlich»

Lieferengpässe bei über 500 Präparaten bringen Ärzte, Pflegepersonal und Patienten täglich in heikle Situationen. Schnelle Linderung ist nicht in Sicht.
Publiziert: 20.07.2025 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 20.07.2025 um 12:53 Uhr
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Für Patienten in der Spitalapotheke in Interlaken abgepackte Medikamente.
Foto: Keystone

Darum gehts

  • Medikamentenengpässe gefährden Patienten
  • Bundesamt für Gesundheit sucht nach Lösungen für Versorgungsengpässe
  • Über 700 Arzneimittel sind zeitweise nicht verfügbar
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Andreas SchmidInlandredaktor

Über 40 Mal haben Spitäler, Heime und Ärzte in einem Monat Probleme bei der Beschaffung von Medikamenten eingetragen. Die Verantwortlichen des überregionalen Fehlermeldesystem Cirrnet der Stiftung Patientensicherheit Schweiz hatten für März dazu aufgerufen, Probleme mit Lieferengpässen und nicht verfügbaren Arzneimitteln festzuhalten.

Die Auswertung der Meldungen zeigt, dass die fehlenden Medikamente in fast einem Drittel der Fälle Patienten gefährdeten. Therapien mussten unterbrochen und alternative Behandlungen definiert werden. «Durch Ersatzmedikamente entstanden erhöhte Risiken», sagt Britta Gerloff, Sprecherin der Stiftung Patientensicherheit. Zudem verursachten Lieferengpässe einen höheren Aufwand und Mehrkosten; Stress und Verunsicherung von medizinischem Personal und Patienten seien weitere Folgen.

«Grosse Herausforderung»

In den Meldungen heisst es beispielsweise, dass Präparate nicht mehr als Tabletten lieferbar seien. Eine Umstellung auf Tropfen sei eine «grosse Herausforderung» für das Spitex-Personal, weil die Medikamenten-Verordnungen für alle Betreuten angepasst und das flüssige Arzneimittel organisiert werden müsse.

In anderen Fällen berichten Pflegefachleute von ausbleibenden Lieferungen. Bestellte Medikamente seien erst mit tagelangen Verzögerungen eingetroffen.

Keine schnelle Lösung

«Die Versorgungsengpässe sind auf viele Faktoren zurückzuführen und nicht kurzfristig zu beheben», sagt Britta Gerloff. So ist das Problem denn auch seit Jahren ungelöst. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) sucht mit zwei Taskforces nach kurz- und längerfristigen Massnahmen, um die benötigten Medikamente vorrätig zu haben.

Da einige Vorschläge mit Gesetzesanpassungen verbunden sind, dauert die Umsetzung allerdings Jahre. Andere Ansätze wie die Abgabe von Teilmengen und die Vergütung von Importen lösen nur einen kleinen Teil des Problems.

Die Ursache von Arzneimittelengpässen ortet das BAG im kleinen Schweizer Markt mit strikten Vorschriften wie die grossen Absatzgebiete. Das führe zu einer Abwanderung der Hersteller in Niedriglohnländer und mache die Lieferketten anfällig, analysierte eine BAG-Vertreterin vor Fachleuten.

Um die Mängel zu beheben, könnten zum Beispiel die Zulassungsverfahren bei raren Medikamenten vereinfacht, Anreize für die Hersteller geschaffen und die Preise stabil gehalten werden, schlägt das BAG vor. Auch die Herstellung von Arzneimitteln durch den Bund in gravierenden Mangellagen stellt das Amt zur Diskussion.

Das für die Medikamenten-Lager zuständige Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung führt in seiner regelmässig publizierten Liste der fehlenden Medikamente ein paar Dutzend Präparate auf. Die Publikation beschränkt sich auf Mittel, die für Patienten überlebenswichtig sind.

Hunderte Medikamente knapp

Auf einer anderen Liste sieht es denn auch wesentlich dramatischer aus: Seit bald zehn Jahren erfasst Enea Martinelli, Chefapotheker der Spitäler Frutigen Meiringen Interlaken, wöchentlich die fehlenden Medikamente. Die Daten bezieht er von Herstellern und Grossisten.

Auf Martinellis Liste sind zeitweise über 700 Arzneimittel aufgeführt. Die enorme Diskrepanz zur Statistik des Bundes sei damit zu erklären, dass er auch Medikamente – etwa gegen Parkinson, Epilepsie oder psychische Erkrankungen – berücksichtige, deren Mangel zwar nicht lebensgefährlich, aber aus Patientenoptik bedrohlich sei, sagt Martinelli.

Finanzkraft hilft wenig

Man setze alles daran, dass niemand gefährdet sei, «doch das sicherzustellen, ist nicht ganz trivial», hält der Spitalapotheker fest. Dass ein reiches Land wie die Schweiz mit Medikamenten-Engpässen zu kämpfen hat, sei nicht widersprüchlich. Die Finanzkraft sei wenig massgebend für die Verfügbarkeit von Arzneimitteln.

Das kleine Absatzpotenzial führe zu einem beschränkten Angebot. «Zudem schauen wir zu, wie ausländische Investoren Schweizer Firmen aufkaufen und ausbluten lassen», kritisiert Martinelli. Das führe dazu, dass in Krisen die eigene Versorgung nicht gewährleistet sei und lebenswichtige Ampullen oder Injektionslösungen fehlten.

Initiative hängig

Martinelli gehört auch dem Initiativkomitee eines Volksbegehrens an, das im vergangenen Oktober eingereicht wurde. Es fordert die «medizinische Versorgungssicherheit». Die Bevölkerung habe Anrecht auf bestmögliche Behandlung. Der akute und steigende Medikamentenmangel mache dies aber zunehmend schwieriger.

Die Initiative will deshalb eine Bundeskompetenz statt der kantonalen Zuständigkeiten schaffen, den Standort Schweiz stärken sowie zuverlässige Lieferketten aus dem Ausland aufbauen.

Der Bundesrat hat einen direkten Gegenvorschlag zur Initiative erarbeitet. Dieser Entwurf ist derzeit in der Vernehmlassung. Die Landesregierung beurteilt die Initiative selbst als «zu wenig wirksam», weshalb sie eigene Massnahmen vorschlägt. Zum Beispiel ein zentrales Monitoring der Versorgungslage durch den Bund oder die Kompetenz, selbst medizinische Güter herzustellen oder produzieren zu lassen.

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