«Diese Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs»
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Schockierende Zahlen:«Diese Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs»

Kinderpornos, Exhibitionismus, Vergewaltigungen in Abtei Saint-Maurice
Das Kloster der Schande

Im ältesten Kloster der Schweiz sind Kinder sexuell missbraucht worden. Trotz eines Verbots hatte ein Täter kürzlich noch Kontakt mit Kindern.
Publiziert: 20.06.2025 um 11:27 Uhr
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Aktualisiert: 20.06.2025 um 16:34 Uhr
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Pater Matthäus (Name geändert) soll immer wieder Mädchen unangemessen berührt haben.
Foto: FACEBOOK

Darum gehts

  • Deutscher Priester feierte trotz Verbot Erstkommunion mit Kindern im Kanton Freiburg
  • Priester hat lange Geschichte sexueller Belästigung und Lügen
  • Studie zeigt 67 Vorfälle sexualisierter Gewalt von 30 Chorherren zwischen 1960 und 2024
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Raphael RauchBundeshausredaktor

Vor einem Monat feierten Kinder im Kanton Freiburg Erstkommunion. Am Altar stand ein deutscher Priester, der hier nicht stehen dürfte: 2019 hat der Abt von Saint-Maurice VS ihm verboten, mit Kindern und Familien Kontakt zu haben.

Der Priester beschäftigt seit Jahrzehnten die katholische Kirche. In Deutschland und Österreich ist er aktenkundig. Er soll Mädchen sexuell belästigt haben. Er musste den Prämonstratenser-Orden verlassen und wechselte in eine Pfarrei. Dort behauptete er, die Rückendeckung deutscher Bischöfe zu haben – doch dann flog sein Lügenkonstrukt auf. Er ging ins Wallis, wo er in Saint-Maurice um eine neue Chance bat – und sie erhielt.

Einem Mädchen unter die Bluse gefasst

Spätestens ab 2010 wusste der damalige Abt von Saint-Maurice von den Vorwürfen. Sie reichen von sexualisierter Gewalt und Problemen im Umgang mit Mädchen bis zu einer «kindlichen Persönlichkeit» und der krankhaften Sucht, unwahre Geschichten zu erzählen. 2002 hatte sogar der Vatikan den Priester sanktioniert.

Auch im Wallis fiel der Priester auf – doch lange Zeit passierte nichts. 2015 streichelte er nach einer Messe einem Mädchen den Rücken, «sogar unter der Bluse». So steht es in einem Untersuchungsbericht, den die Abtei in Auftrag gegeben hat und der am Freitag an der Universität Freiburg vorgestellt wurde.

2019 verbot der Abt von Saint-Maurice dem Priester jeglichen Kontakt zu Kindern. Er darf das Gebiet der Abtei nicht ohne Erlaubnis verlassen. Trotzdem ist er nach wie vor als Priester aktiv. Recherchen von Blick zeigen: Der Priester feierte in den vergangenen Jahren immer wieder Messen im Bistum Basel und im Bistum Lausanne, Genf und Freiburg – Ende Mai die eingangs erwähnte Erstkommunionfeier.

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Abt ignoriert «mehrfache Alarmmeldungen»

Zwar verhinderte der Bischof von Basel, Felix Gmür (59), dass der Priester eine Festanstellung im Berner Oberland erhielt; seit 10. Februar 2025 darf er im Bistum Basel keine Messen mehr feiern. Trotzdem zeigt der Fall, dass der katholische Missbrauchskomplex kein Problem der Vergangenheit ist, sondern in die Gegenwart reicht: Das Versprechen der Kirche, Täter zu bestrafen und aus dem Verkehr ziehen, funktioniert in vielen Fällen nicht. Entgegen «mehrfacher Alarmmeldungen» konnte sich der Priester im Wallis niederlassen. Laut der Studie verstiess das Kloster Saint-Maurice gegen die Richtlinien der Schweizer Bischofskonferenz.

Was ist in Saint-Maurice sonst noch vorgefallen? Die Dunkelziffer gilt als hoch; laut der Studie gab es im Zeitraum zwischen 1960 und 2024 mindestens 67 Vorfälle von sexualisierter Gewalt, die von mindestens 30 Chorherren verübt wurden. Bei den Vorfällen handelt es sich um «Gesten oder Äusserungen mit sexuellen Anspielungen in einem Machtverhältnis, wiederholte sexuelle Berührungen, zweideutige Fotosessions, Verführungsversuche in einem Machtverhältnis, Exhibitionismus oder der Konsum von Kinderpornografie», hält der Bericht fest. «Es gab auch Fälle von sexuellen Übergriffen, Vergewaltigungen und Zwangsabtreibungen.»

Priester missbraucht Jungen im Hotelzimmer

Die Taten geschahen teils hinter den Klostermauern, teils ausserhalb – manche sogar im Ausland: Ein Priester missbrauchte in einem Hotelzimmer in Bratislava (Slowakei) drei Jungen im Alter von 12 bis 15 Jahren. Ein anderer Priester soll Mädchen in Afrika sexuell belästigt haben; später zogen die Mädchen ihre Aussagen zurück. Offenbar hatten sie Angst, ansonsten ihr Stipendium zu verlieren.

Die Studie wirft den verantwortlichen Äbten, aber auch den Behörden im Wallis Versagen vor. Die Äbte gingen lange Zeit gar nicht oder zu lax gegen die Täter vor. Und die Behörden im Wallis schonten das älteste Kloster der Schweiz mit seinem renommierten Internat, in dem Bundesräte und Regierungsräte die Schulbank gedrückt hatten.

Was ist mit Abt Scarcella?

Die unabhängige Forschungsgruppe muss sich an der Medienkonferenz auch kritischen Fragen stellen: Warum hat sie die Vorwürfe gegen den aktuellen Abt, Jean Scarcella, nicht untersucht? Ein Opfer wirft Scarcella sexuelle Belästigung vor. Am 14. Oktober 2022 schrieb der Betroffene sogar einen Brief an den damaligen Papst Franziskus: Der Abt von Saint-Maurice habe ihn «an den Hintern gefasst». Laut der Walliser Generalstaatsanwältin Béatrice Pilloud (50) soll der Vorfall 1994 stattgefunden haben: Das Opfer war damals 15 Jahre alt. Strafrechtlich ist die Tat verjährt, der Vatikan hat Scarcella einen förmlichen Verweis erteilt. Die Forschungsgruppe teilte mit, keine Akteneinsicht in die kircheninterne Untersuchung gegen Scarcella erhalten zu haben.

Abt Scarcella fehlte an der Medienkonferenz. Ein Vertreter der Abtei bat die Missbrauchsopfer um Vergebung: «Dieser Bericht zwingt uns, der schmerzhaften Realität ins Auge zu sehen.» Das Kloster kündigte einen Aktionsplan an, um «die Wahrheit ans Licht zu bringen» und die Präventionsarbeit zu verbessern.


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