Flüchtlingsbabys öffnen Herz von SVP-Asyl-Hardliner Glarner
«Wir müssen mehr helfen»

Auf seiner viertägigen Reise traf Andreas Glarner (54) erstmals in seinem Leben auf Flüchtlinge im Elend.
Publiziert: 08.07.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 22:42 Uhr
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Die Schicksale von Flüchtlingskindern, wie jenes des drei Monate alten Ako, gehen Andreas Glarner nahe.
Foto: Nico Menzato
Syrische Flüchtlingsbabys öffnen das Herz von SVP-Asyl-Hardliner
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Andreas Glarner besucht zwei Flüchtlingslager:Syrische Flüchtlingsbabys öffnen das Herz von SVP-Asyl-Hardliner
Nico Menzato (Text und Fotos) und Mario Heller (Fotos)

Mit einer einzigen Äusserung sorgte Andreas Glarner (54), SVP-­Nationalrat und Gemeindeammann von Oberwil-Lieli AG, über die Landesgrenzen hinaus für Kopfschütteln. Oder Entsetzen. Ein ARD-Reporter fragte ihn vor knapp einem Jahr, was er einer verzweifelten Mutter sagen würde, die mit ihren Kindern am Grenzzaun zu Europa um Einlass bitte. Glarners Antwort: «Dass sie die Reise ver­gebens gemacht hat und umkehren soll.»

Diese Woche traf der in der SVP fürs Asyldossier zuständige Politiker erstmals in seinem Leben auf Flüchtlinge im Elend. Nicht auf Flüchtlinge in Asyl­statistiken. Der Aargauer besuchte zwei Camps ausserhalb von Sindos im Norden Griechenlands.

Auf der viertägigen Reise lässt er sich auf die harte Realität ein, die Schicksale gehen dem Hardliner ans Herz. Er sagt zu BLICK: «Es ist brutal, in welchen zum Teil menschenunwürdigen Umständen diese Menschen leben. Wir müssen jenen Flüchtlingen, die schon in Europa sind, mehr helfen, als wir das bislang taten.»

Das sind brisante Aussagen eines Politikers, der bis vor kurzem die allermeisten Flüchtlinge als Wirtschaftsmigranten abtat. Und zur Abschreckung ­einen Asylstopp verhängen und einen Stacheldrahtzaun um die Schweiz ziehen wollte.

Die beiden Camps, die der Nationalrat besichtigt, werden vom griechischen Militär betrieben. Mehr schlecht als recht. Die Griechen sind vom Ansturm nach wie vor heillos überfordert. Im Lager Karamanlis, einer ehemaligen Gerberei, ist das Schweizer Hilfswerk Swisscross.help von Michael Räber (40) präsent. Er und sein Team sorgen für menschenwürdigere Bedingungen. Im zweiten Camp, Frakaport, sind die Flüchtlinge sich selbst überlassen. Es fehlt an vielem. Zelte stehen in der prallen Sonne. Medizinische Hilfe gibt es kaum. Abwechslung im tristen Alltag schon gar nicht.

Beide Lager entstanden, nachdem Ende Mai das Elendslager Idomeni an der mazedonischen Grenze geräumt wurde. Die meisten Flüchtlinge – fast alles Familien, viele mit kleinen Kindern – stammen aus Syrien. Einige wenige kommen aus dem Irak oder Afghanistan. Sie alle warten sehnlichst darauf, dass sie von der zuständigen Uno-Organisation, dem UNHCR, regis­triert werden. Damit sie in Griechenland ein Asylgesuch stellen können.

Das Asylverfahren kann Jahre dauern. Weiterreisen ist nur mit der Hilfe teurer Schlepper möglich – auf der Balkanroute sind die Grenzen Richtung Nordeuropa geschlossen. Die Hoffnungslosigkeit ist mit Händen zu greifen. Die Menschen konnten dem Krieg entfliehen, überstanden eine lebensgefährliche Reise übers Meer – und nun fühlen sie sich wie Gefangene in Zeltstädten.

Babys öffnen das Herz des Asyl-Hardliners

Jetzt bekommen sie Besuch von einem sehr speziellen Gast: And­reas Glarner und seine SVP haben bisher alles bekämpft, was die Lage der Flüchtlinge in Europa hätte verbessern können. Und nun lässt sich der Rechtsaussen-Polterer durch die beiden Lager führen.

Der SVP-Asylchef zeigt keine Berührungsängste, geht auf die Flüchtlinge zu. Setzt sich in die Zelte. Hört sich von Familien die dramatischen Geschichten ihrer Flucht an. Stellt Fragen nach den Lebensbedingungen im Camp und ihrem Wohlergehen. Und er herzt viele Kinder und Babys – etwa die erst sieben Tage alte Tamam. Die Schicksale der Kinder gehen dem zweifachen Familienvater nahe.

Bei den Flüchtlingen kommt Glarner gut an. Viele beginnen zu strahlen, weil sie glauben, dass ein wichtiger Politiker sie besuche. Aus ihren Augen funkelt plötzlich neue Hoffnung. Nach einem längeren Gespräch zwischen dem SVP-Mann und dem Syrer Taha, der mit Frau und drei kleinen Kindern dem Krieg entflohen ist, sagt der Flüchtling: «Er ist ja gar nicht so schlimm, wie ich gedacht habe.»

Doch auch Glarners mitleidlose Seite kommt in all dem Elend zum Vorschein: Als ein irakischer Polizeioffizier, dessen Baby im Bombenhagel gestorben ist, um Hilfe fleht, entgegnet Glarner trocken: Er könne in der Schweiz nur dann ein Asyl­gesuch stellen, wenn er es bis zur Grenze schaffe.

Auf einen Schlag wird da den Schweizer Hilfswerkmitarbeitern bewusst, dass dieser Mann eben doch auch ein Pöbel-Politiker ist, der Wahlkampfplakate wie «Maria statt Scharia» oder «Kopf hoch oder Kopf ab» verantwortet. Und diese eben doch zum Hardliner passen.

Das zeigt sich auch in einer anderen Szene. Bashir, ein Syrer Mitte 20, erzählt aufgewühlt, wie er an fünftvorderster Stelle gestanden habe, als die Grenze zu Mazedonien dichtgemacht wurde. Multimillionär Glarner tippt auf seinem Handy herum, um Geschäftsmails zu prüfen. Wenig später erzählt er BLICK mit spitzbübischem Lächeln, er werde für seine beiden Töchter ein Auswanderungskonto einrichten. Damit sie Europa verlassen könnten, wenn es wegen der Migration «verarmt» und «islamisiert» sei.

Der Grund, wieso der SVP-Politiker überhaupt Flüchtlingslager besucht, heisst Andrea ­Fischer Schulthess (46). Die Zürcher Autorin und Geschichtenerzählerin ärgerte sich dermassen über die asylpolitischen Positionen Glarners, dass sie ihn via Facebook aufforderte, einen Augenschein vor Ort zu nehmen.

«Mein Ziel war, dass er mit Flüchtlingen spricht – denn es ist entscheidend, dass Menschen auch in schwierigen Situationen wie der Flüchtlingskrise miteinander sprechen.» Innert zweier Tage sagte Glarner zu.

Auch Fischer Schulthess, die schon Flüchtlingshilfe auf der griechischen Insel Lesbos leistete, beobachtet die zwei Seiten des Politikers. «Im Umgang mit Flüchtlingen ist er offen und mit den Kindern sehr herzlich. Sobald die Flüchtlinge aber Probleme ansprechen und Forderungen formulieren, weicht er ­einen Schritt zurück.»

Die Angst der Schweizer Gemeinden

In seinen asylpolitischen Kernforderungen weicht Glarner trotz der dramatischen Bilder, die er sieht, keinen Millimeter von seinen Positionen ab: «Ich bin überzeugter denn je, dass wir die Flüchtlinge nicht nach Europa lassen dürfen!» Die Schweiz müsse mehr Hilfe vor Ort leisten: mit menschenwürdigen Camps in Nachbarstaaten von Kriegsgebieten. Dort sei der Franken viel mehr wert als in der Schweiz – und es müsse niemand sein Leben riskieren und in ein Boot steigen. Zudem werde das Schlepperwesen so zerstört. Und wenn in ­einem Land Frieden einkehre, könnten die Bürger rasch zurückkehren. «Wenn ich ein Flüchtling wäre, würde ich mir genau dies wünschen.»

Die Frage liegt nahe, ob Glarner bei diesen Forderungen wirklich an die Menschen oder doch eher an das Hauptanliegen seiner Partei denkt: dass nur sehr wenige oder besser gar keine Flüchtlinge in die Schweiz gelangen sollen. «Wenn sie in Europa sind, ist es passiert. Dann bleiben sie. Wir können aber den Ansturm nicht verkraften. Die Gemeinden sind wegen der Flüchtlinge am Verlumpen. Mit jedem, den wir aufnehmen, machen sich drei neue auf den Weg!»

Es sind Sätze, die Glarner auf der Reise mehrfach wiederholt. Und die so gar nicht zu all der Armut und Verzweiflung passen, die ihn in den Lagern umgeben.

Motiviert Solidarität die Menschen zur Flucht?

Michael Räber erlebt dieses Elend täglich hautnah. Der Berner hat vor knapp einem Jahr das private Hilfswerk Swisscross.help aus dem Boden gestampft. Er arbeitet unermüdlich, unbürokratisch und mit viel Herzblut daran, dass die Flüchtlinge in Griechenland unter menschenwürdigen Bedingungen leben können.

Der Experte vor Ort widerspricht Glarners Behauptung vehement, Solidarität führe zu weiteren Flüchtlingswellen: «Auch bei offenen Grenzen kommen nicht wesentlich mehr Flüchtlinge nach Europa.» Die Menschen entschieden sich aufgrund der Situation in ihrer Heimat für oder gegen eine Flucht. Wer gehen wolle, tue dies auch unter Lebensgefahr. Wer sich trotz Elend zum Bleiben entscheide, komme auch mit offenen Grenzen nicht nach Europa.

Räber freut sich aber, dass Glarner die Zeit für einen Besuch gefunden hat. «Denn niemand kann die Situation vom Schreibtisch aus beurteilen.»

Tatsächlich könnte der Besuch Folgen für die Schweizer Politik zeitigen. Denn Glarner will sein Credo, dass die Hilfe für Flüchtlinge in Europa intensiviert werden müsse, nun in die SVP-Geschäftsleitung tragen, damit die Partei konkrete Forderungen stellen kann.

Ihm schwebt vor, mehr ­finanzielle Mittel für Hilfswerke wie Swisscross.help zur Verfügung zu stellen. Denn der Vergleich der beiden Lager zeige eindeutig, dass Hilfswerke «einen enorm wichtigen Job erledigen» und «die Lage der Flüchtlinge stark verbessern».

Ob die Hilfe staatlich oder auf privater Basis geschehen soll, müsse nun diskutiert werden, meint Glarner im Gespräch mit BLICK. Er könne sich sogar vorstellen, dass die Schweiz ein Kontingent an syrischen Flüchtlingen aufnimmt. «Wieso nicht die 600 Leute aus dem Camp Karamanlis?», so Glarner. Als Gemeindeammann von Oberwil-Lieli hingegen zahlt er lieber eine saftige Busse als Flüchtlinge aufzunehmen.

«Mir scheint, er erschrickt ob seines warmen Herzens»

Wie werden Glarners Parteikollegen Christoph Blocher (75), Adrian Amstutz (62) oder Albert Rösti (48) auf solche Aussagen ihres Asylchefs reagieren? Andrea Fischer Schulthess zumindest hat Freude: «Ich habe Glarner als warmherzigen Menschen kennengelernt – mir scheint, er erschrickt manchmal ob seines warmen Herzens.» Dennoch ist sie skeptisch: «Schauen wir mal, ob die Aussagen, die er emotional gemacht hat, in ein paar Wochen noch gelten.»

Auch Swisscross.help-Chef Räber sieht die SVP nun in Zugzwang: «Genug geredet, jetzt muss gehandelt werden! Es zählt jeder Tag.» Die Schweiz als eine der reichsten Volkswirtschaften und mit ihrer humanitären Tradition solle Vorbild sein. Und Flüchtlinge ins Land holen, auch wenn andere europäische Staaten nicht mitzögen. «Es gibt keine Berech­tigung, sich unkorrekt zu verhalten, weil sich andere unkorrekt verhalten.»

Vorgestern kehrte Andreas Glarner in die Schweiz zurück. Und zieht ein zufriedenes Fazit: «Das war bereichernd. Ich bin froh, dass ich gegangen bin.»

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