Christoph Ramm, Türkei-Experte an der Uni Bern, über die Türkei unter Erdogan
«Statt um Reformen gehts nur noch um Macht»

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (62) führt sein Land mit eiserner Hand. Kritiker räumt er brutal aus dem Weg, neue Freunde sucht er aus Trotz in Russland. Der Westen beobachtet die Entwicklung mit Sorge.
Publiziert: 10.10.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 04.10.2018 um 23:05 Uhr
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Er hält sich für unersetzlich: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan regiert mit harter Hand.
Foto: Murat Cetinmuhurdar
Interview: Guido Felder

BLICK: Herr Ramm, wohin steuert Erdogan die Türkei?
Christoph Ramm:
Erdogan hat das politische System immer stärker auf seine Person zugeschnitten. Unter ihm ist die Türkei in den letzten Jahren zu einem polarisierten, verunsicherten Land geworden. Wenn er nicht zu einer Politik des gesellschaftlichen Ausgleichs zurückkehrt, dürften der Türkei instabile Zeiten bevorstehen. Viele Akademiker überlegen sich jetzt schon auszuwandern. Das noch vor ein paar Jahren so dynamische Land droht in provinzieller Isolation zu versinken.

Die Hoffnungen waren gross, als sich Erdogan noch für Fortschritt einsetzte. Was wollte er ursprünglich aus der Türkei machen?
Seine Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) versprach bei ihrem Regierungs­antritt viel. Die Türkei sollte ein demokratischeres Land werden. Unterschiedliche Identitäten und Lebensstile würden respektiert. Eine modernisierte, wirtschaftlich starke Türkei sollte der EU beitreten und eine konstruktive Aussenpolitik verfolgen. Und tatsächlich hat es in den ersten Jahren viele Fortschritte in diese Richtung gegeben.

Warum hat er den Kurs geändert?
Die anfängliche Dynamik hat sich mit den Jahren an der Macht verbraucht. Der AKP gelang es, nach und nach alle Schlüsselbereiche des Staates zu kontrollieren. Statt Reformen geht es der Partei jetzt nur noch darum, ihre Macht zu verwalten und Rivalen zurückzudrängen. Eine Rolle spielt auch das Erlahmen der EU-Beitrittsverhandlungen. Mit dem Schwinden der EU-Perspektive fehlt Erdogan ein wichtiger Anreiz, Reformen voranzutreiben.

Wie viel Macht will er noch an sich reissen? Wird er zum Diktator?
Erdogan steht in der Tradition türkischer Politiker, die sich in ihrer Partei und dem Staat für unersetzlich halten. Aus deren Sicht kann sich das Land nur dank ihrer Führungsstärke entwickeln. Wie für andere Rechts­populisten in Europa ist für Erdogan Demokratie nur ein formales Mittel.

Bemerken die Türken das Abdriften ihres Landes nicht? Warum stehen so viele hinter Erdogan?
Er ist durchaus charismatisch. Seine Anhänger kann er mit einer Mischung aus volksnaher Sprache, Freund-Feind-Denken und religiös aufgeladenem Nationalismus mobilisieren. Zugleich stammt Erdogan selber aus einfachsten Verhältnissen. Viele Menschen vom Land und aus den Vorstädten sind im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs ins Bürgertum aufgestiegen. Sie können sich mit Erdogan identifizieren.

Auf die Kurden ist Erdogan schlecht zu sprechen. Es scheint, dass er gar keine friedliche Lösung will. Warum ist er auf Vernichtung aus?
Erdogan hat in der Kurdenfrage lange einen pragmatischen Kurs gefahren. Erst 2015 hat er aus wahltaktischen Gründen die neuerliche Eskalation mitbetrieben. Zwar spricht er jetzt kompromisslos von «Vernichtung» der Arbeiterpartei Kurdistans, der PKK. Sollte es ihm ­jedoch nützen, ist es nicht undenkbar, dass er künftig wieder stärker auf Pragmatismus setzt.

Unter Erdogan bekommt der Islam in der Türkei einen grösseren Stellenwert. Ist er überzeugter Muslim? Zeigt er islamistische Tendenzen?
Erdogan selbst ist gläubiger sunnitischer Muslim. Die Religion ist für ihn sicher eine wichtige politische Motivation. Allerdings führt die Bezeichnung «islamistisch» in die Irre. Die Ideologie der AKP basiert eher auf einem national-religiösen Populismus, der viele aus der Bevölkerungsmehrheit der sunnitischen Türken anspricht.

Es gibt immer wieder Stimmen, die behaupten, dass Erdogan mit den Terroristen des Islamischen Staates zusammenarbeite.
Mittlerweile stellt der IS eine grosse Bedrohung für die Türkei dar, wie zahlreiche Anschläge zeigen. Es gibt allerdings Hinweise, dass die AKP-Regierung gerade in den ersten Jahren des Syrien-Kriegs manche islamistischen Gruppen unterstützt hat, um dem gemeinsamen Feind Assad zu schaden. Nach heutigem Wissensstand lässt sich eine aktive Unterstützung des IS aber nicht belegen.

Wie ernst ist ihm ein Beitritt zur Europäischen Union?
Für Erdogan und die AKP war der EU-Beitritt immer Ausdruck der Sehnsucht, endlich vom Westen respektiert zu werden. Der Ärger über die Hinhaltepolitik der EU ist echt. Trotz aller antiwestlichen Rhetorik weiss die türkische Führung, dass die EU die wichtigste Handelspartnerin ist und die Nato die ein­zige verlässliche Verbündete. Unbeständige Beziehungen mit Mächten wie Russland sind da nur zweite Wahl.

Wie soll sich Brüssel verhalten?
Wäre die EU weitsichtig, sollte sie Ankara gerade jetzt ein ehrliches Angebot machen: Die Türkei bekommt eine klare Perspektive, Mitglied zu werden, wenn sie auf den Weg der Demokratisierung zurückkehrt.

Wird die Türkei in der Flüchtlingsfrage ein verlässlicher Partner der EU werden?
Das Flüchtlingsabkommen ist Ausdruck davon, dass die EU und die Türkei keine gemein­same Vision mehr haben. Es geht nur um durchsich­tige Interessen. So wie die EU die Türkei zur Flüchtlingsabwehr benutzt, benutzt Erdogan den Flüchtlingsdeal als Druckmittel. Dabei geht es nicht nur um Gegenleistungen wie die Visafreiheit. Die EU sieht sich auch gezwungen, die Kritik an der Menschenrechtslage zu dosieren.

Erdogan, der erst seit zwei Jahren Präsident ist, wird seine Macht wohl noch weiter ausbauen und sie über Jahre auskosten. Was wird mit der Türkei passieren, wenn er einmal nicht mehr ist?
Auch wenn es im Moment nicht danach aussieht: Die Türkei hat nicht nur eine autokratische Tradition. Sie hat auch eine ­pluralistische Erfahrung, die bis ins Osmanische Reich zurückreicht. Noch gibt es keine glaubwürdigen Persönlichkeiten, die für die Mehrheit der türkischen Wähler eine Alternative zu Erdogan darstellen. Doch sollten politische Unsicherheit und wirtschaftliche Schwierigkeiten andauern, kann sich das ändern. Die Frage ist, ob dann ein friedlicher Machtwechsel gelingt. Staatsstreiche jedenfalls haben die Türkei immer in die Sackgasse geführt.

Dr. Christoph Ramm ist Assistent für Turkologie am Institut für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philo­logie der Universität Bern. 

Mit alles – und scharf!

Syrien-Krieg, Flüchtlinge, Modernisierung des Islams – in wichtigen Fragen ist die Türkei der Staat, auf den es ankommt. BLICK widmet dem Land eine Sonderwoche. Jeden Tag mit spannenden Geschichten. Natürlich geht es auch um Kebab, Döner und Strandferien.

Tippt man «Muselmann» in den Computer – den heute verpönten Begriff für Muslim –, ändert das Korrekturprogramm das Wort in «Muskelmann». Als ob es wüsste, worum es im BLICK-Schwerpunkt zur Türkei von dieser Woche geht.

Natürlich auch um Recep Tayyip Erdogan (62), den starken Mann vom Bosporus. Seit dem undurchsichtigen Putschversuch von Mitte Juli lässt der Präsident seine Muskeln spielen, dass es zum Fürchten ist. Ist die Türkei, die er derzeit von allem und allen Unliebsamen säubern lässt, schon eine Diktatur? Oder doch noch eine Demokratie? Eine der Fragen, die uns beschäftigt.

Wie sich die Türkei entwickelt, ist von Bedeutung für die Welt, von entscheidender gar für Europa und damit für uns.Syrien-Krieg, Flüchtlinge, Modernisierung des Islams – in zentralen Fragen ist das Land ein Schlüsselstaat. Gehört das Nato-Mitglied, das der EU beitreten will und bisweilen erpresserisch darauf pocht, zum Westen? Oder eher und lieber, wie viele denken, doch nicht?

BLICK widmet diese Woche der Türkei jeden Tag spannende Beiträge. Unsere Reporter berichten aus Istanbul, der Feriendestination Antalya, aus Flüchtlingslagern. Dazu liefern Experten ihre Einschätzungen. Wir schauen aber auch den Döner genauer an, besuchen türkische Gemüsehändler in der Schweiz und beantworten die Frage, was es mit dem «Muselmann» wirklich auf sich hat.Freuen Sie sich auf eine abwechslungsreiche türkische Woche – natürlich mit alles und scharf!

Andreas Dietrich

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