Frau Egli-Alge, was bringt einen 18-jährigen Schüler dazu, mit einem Rucksack voller Munition aus dem Haus zu gehen und offenbar wahllos Menschen umzubringen?
Monika Egli-Alge: Die Motive für einen Amoklauf sind immer sehr individuell, auf den konkreten Fall kann ich deshalb angesichts der spärlichen Informationen auch nicht eingehen. Was sich aber sagen lässt, ist, dass es nie ein einzelnes Motiv, sondern um ganze Motivkomplexe handelt, die zu so einer Tat führen. Dass ein junger Mann Ballerspiele spielt, ist also per se kein Risikofaktor – und auch wenn jemand gemobbt wird, heisst das ja nicht automatisch, dass er zum Mörder wird. Zudem muss diese Vielzahl an Motiven auf eine bestimmte individuelle Persönlichkeitsstruktur treffen. Und schliesslich spielen auch situative Aspekte mit.
Von was für einer Persönlichkeitsstruktur sprechen Sie?
Schaut man die individuellen Geschichten von jugendlichen Amokläufern an, kristallisieren sich einige Eckpunkte heraus. So handelt es sich meist um kränkbare Persönlichkeiten, also Menschen, die sehr empfindlich sind und vielleicht auch gemobbt wurden. Sie sind in gewissen Situationen überfordert, sehen keinen Ausweg mehr.
Und ein Amoklauf verspricht ihnen, von der Opfer- in die Heldenrolle zu schlüpfen?
Genau. Einem Amoklauf geht immer eine Phase der Verherrlichung voraus. Der Täter stellt sich vor, dass sich die Macht nur für einmal auf seine Seite verschiebt, ganz nach dem Motto: Jetzt bin ich einmal der Grosse – und nicht immer die anderen.
Welche Rolle spielen die situativen Aspekte, die Sie angesprochen haben?
Ein Amoklauf hat stets einen Auslöser, ein bestimmtes Ereignis oder eine Kette von Ereignissen, die dazu führen, dass ein Amokläufer seine Pläne schliesslich in die Tat umsetzt. Das können ganz kleine Dinge sein, zum Beispiel die Freundin, die Schluss macht, der Kollege, der nicht zurückruft oder die Prüfung, die man nicht bestanden hat. Alles, was sich bis zu diesem Zeitpunkt schon aufgestaut hat, wird dann zu viel. Die Personen steigern sich in etwas hinein, können die Situation nicht mehr bewältigen, der Bezug zur Realität geht verloren. Ein Prozess, der innerhalb einer Woche, aber auch innert eines Tages vonstatten gehen kann.
«Sonderfall» wegen «akuter Terrorlage»Der Schütze von München litt angeblich unter Depressionen. Ein typisches Krankheitsbild für einen Amokläufer?
Eigentlich nicht. Zwar fühlen sich depressive Menschen häufig klein, sind traurig und haben oftmals ein mangelndes Selbstwertgefühl, was dem «typischen» Bild eines Amokläufers entsprechen würde, wenn es denn so eines gibt. Doch eine Depression lähmt auch, der Antrieb fehlt – genau das Gegenteil von der Durchführungsenergie und Antriebskraft, die es für einen Amoklauf braucht. Vielleicht litt er Täter aber nicht unter einer Depression, sondern verfügte über eine depressive Symptomatik als Begleiterscheinung einer anderen psychischen Erkrankung. Oder die anderen Motive waren so stark und die Wut so gross, dass er trotzdem zur Tat schritt.
Eine Tat, die sich nicht verhindern lässt?
Die Voraussagequalität ist bei Amokläufen äusserst niedrig. Denn wenn jemand nicht will, dass man von seinen Plänen erfährt, erzählt er nichts. Und wenn jemand nichts sagt, haben Eltern, Lehrer, Freunde, aber auch Psychiater keine Chance.
Besteht die Gefahr von Nachahmungstätern?
Natürlich kann es immer Nachahmer geben. Eine akute Gefahr von weiteren Amokläufen besteht allerdings nicht, da die Schwelle, eine solche Tat zu begehen, äusserst hoch liegt. Amokläufe wie jener in München sind deshalb zwar unsäglich tragisch – aus kriminologischer Sicht stellen sie aber glücklicherweise eher den Einzelfall dar.