Experte Georg Kreis zum Brexit
Woher kommt die Wut auf die EU?

EU-Skeptiker in ganz Europa jubeln über den Brexit. Woher kommt eigentlich der Hass auf die EU? Und wie geht es jetzt weiter? Georg Kreis, ehemaliger Leiter des Europainstituts Basel, erklärt die Wut, die sich entlädt.
Publiziert: 25.06.2016 um 09:03 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 13:21 Uhr
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Der Kopf der Brexit-Bewegung: Boris Johnson.
Foto: imago stock&people
Roman Rey

EU-Skeptiker auf dem ganzen Kontinent feiern den Brexit. Woher kommt diese Wut gegenüber der EU?
Georg Kreis: Die EU ist eine ideale Projektionsfläche für Unzufriedenheit, der ideale Sündenbock. Ihr werden leichthin Umstände zur Last gelegt, die nicht die EU zur verantworten hat. Umstände, die auf nationales «Versagen» und globale Effekte zurückzuführen sind.

Ist Kritik an der EU denn völlig unberechtigt? 
Wir müssen Detailkritik und Fundamentalkritik unterscheiden. Die eine ist immer berechtigt, die andere im Lichte der Geschichte falsch. Zudem: Wer ist eigentlich die EU? Das waren die 28 Mitglieder. Die EU kann nicht viel besser oder schlechter sein, als die Mitglieder es haben wollen.

Nicht nur in Grossbritannien ist ein riesiges Misstrauen gegenüber «den Mächtigen» spürbar. Woher kommt das?
An der Basis fühlt man sich bezüglich der grossen Wirtschaftsentwicklung ohnmächtig. Das ist verständlich. Das Gefühl richtet sich gegen diejenigen, von denen man annimmt, dass sie an der Macht sind. Darum haben wir jetzt ein doppeltes Feindbild: Einerseits die EU-Institutionen, anderseits die eigenen Regierungen. Denen wirft man Verrat und Kollaboration mit «fremden Mächten» vor.

Gemäss Georg Kreis muss die EU oft als Sündenbock herhalten.

EU-Skeptiker argumentieren, das Volk würde an Souveränität verlieren.
Dabei geht es um den Verlust von etwas, das man gar nie gehabt hat, aber erlangen will. Der Grossteil der Geschichte der europäischen Vereinigung hat ohne Volkskontrolle funktioniert. Das berechtigte Bedürfnis nach Mitbestimmung durch die Basis ist ein Phänomen der letzten 20 Jahre.

Wie kann man die Kluft zwischen oben und unten überwinden?
Es ist eine grosse Herausforderung. Denn es wird immer wichtiger, Entwicklungen auf internationaler Ebene zu regeln – von der militärischen Sicherheit über den Konsumentenschutz bis zu Massnahmen gegen den Klimawandel. Entsprechend grösser wird die Distanz zwischen dem Volk und der Politik.

Es ist ein Hang zum Nationalismus spürbar. Wohin führt das?
Der Widerspruch wird zunehmen: Mit Abschottung wird man den isolierten Staat nicht besser, sondern schlechter stellen. Es wird Rettung versprochen, aber Selbstschädigung betrieben.

Und nun? Fällt jetzt die EU auseinander?
Sicher nicht, es gibt weiterhin und sogar mehr denn je eine objektive Notwendigkeit für die EU. Das schliesst aber Reformen nicht aus.

Aber andere Länder könnten auch austreten.
Rechtsnationale Kräfte anderer Länder fühlen sich nun sicher ermuntert. Aber wir sollten nicht nur diese im Auge haben. Von den 500 Millionen Bürgern sind 330 Millionen mit der EU erklärtermassen zufrieden – sie machen sich einfach weniger bemerkbar.

Könnte die EU mit Reformen wieder an Akzeptanz gewinnen?
Der Brexit kann ein zusätzlicher Grund für Reformen sein, die sowieso nötig sind. Doch Reformen müssen nicht zwingend darauf zielen, die EU zurückzubauen.

Zum Beispiel?
Zur Terrorbekämpfung zum Beispiel braucht es mehr Europa. Bei anderen Dingen darf es etwas weniger sein: Dass die EU den Briten erlaubt hat, EU-Ausländern die Sozialhilfe zu kürzen, ist ein Beispiel dafür.

Was bedeutet der Brexit für das Verhältnis von der EU zur Schweiz? 
Jetzt haben die Trennungsverhandlungen in Brüssel – neben den vielen anderen Fragen – Priorität. Das Schweizer Dossier ist damit noch weiter nach hinten gerutscht.

Schweizer EU-Kritiker werden sagen: Wir haben schon lange gewusst, dass das nicht gut kommt. Können wir froh sein, nicht in der EU zu sein?
Für sie ist der Abstimmungsausgang in der Tat eine Bestätigung. Doch man sollte nicht vergessen, dass es auch eine andere Volkshälfte gibt – im Brexit-Votum und bei den Schweizer Abstimmungen. Uns können auch die 48,2 Prozent der Abstimmenden, die in der EU bleiben wollten, wirklich leid tun. Für sie dürften die negativen Effekte grösser sein als sie es für die EU-Skeptiker bei einem Brexit-Nein gewesen wären.

Können die Wähler die Tragweite ihres Votums überhaupt abschätzen?
Volksentscheide sind nicht immer die beste Lösung. Auch in der Schweiz es gerade bei wichtigen Abstimmungen wirre Kombinationen von Motiven. Solche Entscheide wären in Parlamenten mit doppelter oder dreifacher Lesung und qualifiziertem Mehr besser aufgehoben. Der gehässige Abstimmungskampf bringt oft nicht Klarheit, sondern Verunklärung.

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