Rauschen, Schreie und Geflatter am Busbahnhof der Hauptstadt Pristina: Ein Vogelschwarm fliegt über die Autobusse und verschwindet am Horizont. Es ist kurz vor 21 Uhr. Bald fährt der nächste Bus nach Belgrad, Serbien.
Egzon Krasniqi (22) steht in der zugigen Eingangshalle. Er hat einen Rucksack mit Proviant dabei, Käse und Brot. Der Architekturstudent ist unsicher, ob er ein Ticket für den nächsten Bus kaufen soll. Die sechsstündige Fahrt markiert den Start einer Reise ins Ungewisse. Von der serbischen Hauptstadt aus müsste er versuchen, mit Hilfe von Schleppern über die ungarische Grenze zu gelangen. Und dann weiter nach Deutschland. Ein Onkel, Freunde und ein Nachbar sind mitgekommen, um ihn zu verabschieden. Sie haben Geld für seine weite Reise zusammengelegt.
«Zwanzig deutsche Polizisten stehen an der ungarischen Grenze», sagt jemand. Egzon Krasniqi schaut fragend seinen Onkel an. «Soll ich wirklich fortgehen?», fragt er, die Augen weit aufgerissen. Sie diskutieren.
Vor zwei Wochen waren die Busse so voll, dass er das 15-Euro-Ticket im Voraus hätte kaufen müssen. Bis zu 13 Busse fuhren jede Nacht. Mittlerweile haben aber Geschichten von misslungenen Fluchtversuchen die Runde gemacht und halten nun viele ab. In kosovarischen Zeitungen prangen auf den Titelblättern grosse Inserate – finanziert von den Regierungen der vermeintlichen Traumdestinationen. «Schmuggler lügen. Aus wirtschaftlichen Gründen gibt es kein Asyl in Österreich», steht da. Viele geben trotzdem nicht auf und treten die weite Reise an. In der Hoffnung auf ein besseres Leben.
So wie eine Familie aus der Stadt Istog im Nordwesten. Sie liess alles zurück. Die Kinder Malbor (3) und Albion (2) sind dick eingepackt. Ihnen den zehn Kilometer langen Fussmarsch über das serbisch-ungarische Grenzgebiet zuzumuten, schmerzt Vater Sherif (24). Aber: «Lieber kurz leiden auf der Flucht als das endlose Leiden hier», sagt er. «Ich will meiner Familie ein besseres Leben bieten. Hier wohnen wir in einer Wellblechhütte.» Als Brennholzverkäufer verdient er knapp 500 Euro pro Monat.
Sie haben zwar Verwandte in Bad Ragaz SG, wollen aber zuerst nach Deutschland. «Vielleicht erhalten wir dort Asyl», sagt Mutter Qendresa (24). Sie haben ihr ganzes Erspartes dabei, 400 Euro. Wenig, um Schlepper zu bezahlen und Polizisten zu schmieren. Jemand hat Erbarmen und steckt dem Vater einen Schein zu. Der drückt die Hand schnell fest zu, als hätte er Angst, das Geld zu verlieren.
Junge Männer stehen in einem Grüppchen zusammen. Sie haben wenig Gepäck.
Einige waren bereits in Deutschland. «Wir wollen zur ‹Gerrenze›, sagt einer auf Deutsch – und es klingt wie eine Ortschaft in Serbien. Im Fernseher läuft Fussball. Der Schweizer Exil-Kosovare Xherdan Shaqiri schiesst ein Tor für Inter Mailand. Besnik Ukshini (27) verabschiedet sich von seinem Kumpel mit der Ghettofaust und ruft: «Wir sehen uns vielleicht in der Schweiz!»
Im Stadtzentrum knallt Feuerwerk. Es ist der 17. Februar. Vor sieben Jahren wurde Kosovo unabhängig. Damals jubelten die Menschen, feierten frenetisch in den Strassen. Heute hat keiner mehr Lust auf den Nationalfeiertag – bei 70 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Die meisten haben ihr Land aufgegeben. Angst, dass er wieder in die Heimat zurückgeschickt werde, habe er nicht, sagt Besnik Ukshini. «Ich werde versuchen, schwarz zu arbeiten und irgendwo unterzutauchen.»
Ein anderer junger Mann sagt, es sei viel einfacher und günstiger geworden, in ein EU-Land zu gelangen. Er steigt in den 21.30-Uhr-Bus. 2011 musste er für die Flucht über Mazedonien, Griechenland und Italien nach Frankreich den Schlepperbanden 3000 Euro zahlen. In der Luft liegt ein Hauch von Abenteuer.
Einen Tag später am Flughafen von Pristina: Unter den ankommenden Passagieren der Maschine von Austrian Airlines ist auch eine Gruppe gescheiterter Flüchtlinge. Sie werden beim Ausgang von Verwandten empfangen. «Es war furchtbar, ich kann das Wort Ungarn nicht mehr hören», sagt einer. «Wir mussten im Freien und in Bahnhofshallen übernachten und haben schrecklich gefroren», sagt ein anderer.
«Die Flucht war ein Fehler», sagt Berat Zeqiri (21) aus Vushtrria. Auch seine Reise hatte vor zwei Wochen am Busbahnhof von Pristina begonnen: «In Belgrad nahm ich mit meinem Onkel und seiner Frau ein Taxi nach Budapest. Der Fahrer brachte uns über die Grenze, mein Onkel hat ihn bezahlt.»
Drei Nächte blieben sie dort in einem Backpacker-Hotel. Dann nahmen sie wieder ein Taxi, um nach Deutschland zu gelangen. «20 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt kamen wir auf der Autobahn in eine Geschwindigkeitskontrolle», erzählt der 21-Jährige. «Wir waren viel zu schnell. Der Fahrer hatte es eilig, vermutlich wollte er noch andere über die Grenze bringen.» Die Polizei brachte sie auf ein Revier in Österreich. «Sie sagten, den Taxifahrer erwarte eine Busse von 8000 Euro.»
Mehrere Nächte verbrachte Berat Zeqiri in einem Asylheim: «Zu essen gab es Schweinesalami und Schinken, das mochte ich nicht.» Schliesslich liess er sich freiwillig zum Flughafen Wien bringen. Mit anderen Flüchtlingen steht er nun im Büro von Labinot Vata (27). Der organisiert Gratis-Transporte nach Hause. «Oft haben Rückkehrer nicht einmal Geld für ein Taxi», sagt Vata. «Einige haben ihre ganze Existenz aufgegeben und müssen wieder bei null anfangen.» Die Welle der Rückkehrer werde anziehen, meint er. Diese Woche erwartet er ein bis zwei Sonderflüge aus Frankfurt (D).
Am Busbahnhof ist der unschlüssige Architekturstudent Egzon Krasniqi doch nicht eingestiegen. Die Angst war zu gross. «Vielleicht gehe ich später», sagt er, «wenn sich die Lage an der Grenze beruhigt hat.»
In der Schweiz beschäftigt uns die Masseneinwanderung, der Kosovo leidet unter Massenauswanderung. Zu Tausenden fliehen die Menschen aus der jüngsten Republik Europas, die mehr ein geopolitisches Konstrukt ist als ein funktionsfähiger Staat. Er bietet ihnen zum Leben das Knappste – und freudlose Aussichten im Übermass. Der Kosovo entleert sich. Ein Land wird zum Niemandsland.
Was geht das uns an? In der Schweiz leben schon über 220 000 Kosovaren, die grösste kosovarische Exil-Gemeinde nach jener in Deutschland. Und es werden mehr. Fliehende zieht es dorthin, wo sie schon Verwandte haben. Wo ein besseres Leben lockt. Kosovo-Albaner sind längst Teil der Schweizer Gesellschaft, ob einem das passt oder nicht.
Wie schlimm steht es um ihr Herkunftsland? Was sind die Folgen des Exodus? Gibt es dort wirklich so wenig Hoffnung? Ein BLICK-Reporterteam hat vor Ort recherchiert und berichtet in einer Serie über das Land, dem das Volk abhanden kommt.
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