«Als Straftäterin ginge es mir besser»
So leiden Kranke unter der IV

Die Geschichten von Susanne B.* (50), Marion Lutz (39) und Jürgen K.* (46) zeigen, was die 6. Revision aus der IV gemacht hat.
Publiziert: 11.12.2014 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 07.10.2018 um 09:47 Uhr
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Starke Schmerzen machen das Leben für Marion Lutz (39) zur Hölle. Anspruch auf IV-Rente hat sie nicht.
Foto: Thomas Lüthi
Von Sabine Klapper

Susanne B. bezieht nach einem schweren Autounfall seit zwölf Jahren IV-Rente. Die soll ihr plötzlich gestrichen werden.

Susanne B.* (50) weint viel. Sie ist verzweifelt. Sie muss aus ihrer Wohnung raus. Der Vermieter meldet Eigenbedarf an. Doch sie vermutet einen anderen Grund. Weil ihre IV-Rente immer erst später überwiesen wird, als die Miete fällig ist, muss der Vermieter regelmässig ein paar Tage auf sein Geld warten. Susanne B. hat eine kleine Übergangsbleibe gefunden, muss sich aber von einem grossen Teil ihres Hab und Gutes trennen.

1995 erlitt Susanne B. bei einem Autounfall eine Hirnverletzung und ein Schleudertrauma. Sie leidet bis heute unter Kopfschmerzen und Konzentrationsschwierigkeiten. Ihre Reaktionen sind verlangsamt, sie ist kaum belastbar, braucht viele Ruhepausen und hat schnell einmal «Aussetzer». Zwei Jahre lang arbeitete sie als Krankenpflegerin weiter – bis es nicht mehr ging. Seit zwölf Jahren lebt sie von der IV-Rente.

Im Rahmen der 6. IV-Revision von 2012 werden bestimmte Renten systematisch überprüft. So erhielt Susanne B. im März 2013 eine Einladung von der IV. Eine Wiedereingliederung ins Berufsleben müsse in Betracht gezogen werden. Ihr Besuch auf der IV-Stelle endete mit einem Schock! Ein «Schreibtischtäter», wie sie den IV-Berater nennt, stellte per Augenmass fest, dass sie gesund sei und ins Wiedereingliederungsprogramm einsteigen müsse. Ansonsten werde ihr die Rente gestrichen. Ihre Gegenargumente liess der IV-Berater nicht gelten: «Ich habe auch Kopfschmerzen und gehe trotzdem arbeiten.»

Susanne B. plagen seitdem Existenzängste. Die Mutter von drei erwachsenen Kindern, die getrennt von ihrem Mann lebt, ist seit 17 Jahren nicht mehr berufstätig. Sie fühlt sich nicht fähig, an einer Wiedereingliederungs-Massnahme teilzunehmen. Sie ging rechtlich gegen den Entscheid vor. Mit Hilfe ihres Anwalts gewann sie Monate später vor dem Kantonsgericht. Die Wiedereingliederungsmassnahme wurde aufgehoben, weil ihre Beschwerden medizinsch nicht abgeklärt worden waren. Das Urteil brachte ihr Gerechtigkeit – aber keine Erleichterung.

Jetzt steht ein weiterer Termin an. Ihr Gesundheitszustand muss von einer medizinischen Abklärungsstelle begutachtet werden. Sie sagt, dass «viele Gutachter finanziell von der IV abhängig sind – und entsprechend entscheiden.» Sie fürchtet, in letzter Konsequenz zum Sozialamt abgeschoben zu werden.

Dabei würde sie gerne arbeiten, wenn sie könnte. Von 2009 bis 2012 hat sie auf eigene Initiative in einer Bäckerei ausgeholfen. Dort kam sie an ihre Grenzen. Zudem misstraute ihr die Chefin, wenn sie in der Hektik vergass, eine Rechnung einzutippen. «Sie warf mir vor, ich hätte in meine eigene Tasche gewirtschaftet», sagt Susanne B.  Einmal mehr musste sie erfahren, dass niemand ihre Krankheit und die Schmerzen  nachvollziehen kann.

Sie fühle sich der IV ausgeliefert, sagt sie. «Ich werde menschenunwürdig behandelt und kann mein Leben nicht planen. Täglich muss ich auf neue Nachrichten von der IV gefasst sein.  Als Straftäterin würde es mir besser gehen», sagt sie. Und meint damit: Sie hätte ein Dach überm Kopf und wäre versorgt.

Starke Schmerzen machen das Leben für Marion Lutz (39) zur Hölle. Anspruch auf IV-Rente hat sie nicht.

Marion Lutz (39) erlitt 2006 einen Autounfall. Obwohl sie über Kopf-  und Nackenschmerzen klagte, wurde sie von den Ärzten nicht geröntgt. Die Ostschweizerin aus Altstätten SG trug ein Schleudertrauma davon, leidet seitdem unter Weichteilrheuma, dem Fibromyalgie-Syndrom (FMS). Ohne Aussicht auf Besserung.

Seit acht Jahren versucht sie, ihre Ansprüche auf IV geltend zu machen. Zahllose Abklärungen gesundheitlicher und juristischer Art und viel Ärger mit der IV haben zu nichts geführt. «Ich werde zwischen den Behörden hin- und hergeschoben und menschununwürdig behandelt. Entscheide dauern ewig!» Allein ihre Ärzte-Odyssee erstreckte sich  über fünf Jahre, bis sie die eindeutige FMS-Diagnose erhielt. Ihre Krankheit wird seit der 6. Revision des IV-Gesetztes von 2012 nicht mehr anerkannt, obwohl sie unter fürchterlichen Schmerzen leidet. «Für viele bin ich eine Simulantin, die keine Lust hat zu arbeiten.»

Fibromyalgie bedeutet starke Schmerzen in Muskeln, Bändern, Sehnen und Gelenken. «Die Krankheit bestimmt mein Leben», sagt Marion Lutz, geschieden und Mutter eines Sohnes (17). Ihren Haushalt kann sie nur mit Hilfe ihrer Mutter führen. «Manchmal komme ich auf allen Vieren aus dem Bett oder rutsche auf dem Hosenboden durch die Wohnung.»

Marion Lutz hat all die Jahre auf die Zähne gebissen, weiter gearbeitet. Doch diesen Herbst verlor sie ihre Stelle als Altenpflegerin. Ihr 60-Prozent-Pensum hätte sie auf Empfehlung der Ärzte auf halbe Tage aufteilen sollen. Das bewilligte der Arbeitgeber nicht. Ein Arzt warnte: «Was sie leisten, haut den stärksten Mann um.» Jetzt sucht sie Arbeit – ohne zu wissen, was sie bewältigen kann. «Nur noch leichte bis mittelschwere Arbeit, Anspruch auf eine 50-Prozent-Rente», bescheinigen ihr verschiedene Ärzte. Und die regionale Arbeitsvermittlung  (RAV) habe ihr gesagt, sie sei nicht vermittelbar. Findet sie keine Arbeit, droht ihr der Gang zum Sozialamt, «ein Horror für mich». Sie fürchtet den finanziellen Fall, den sozialen hat sie schon erlebt. Viele Freunde haben sich zurückgezogen, sie ist  zur Einsiedlerin geworden.

Jürgen K. ist aus dem IV-System ausgebrochen. Ob die Flucht gelingt, ist offen.

Jürgen K.* (46) leidet seit 2002 an unheilbarem Krebs. Als wäre dieses Schicksal nicht schwer genug, erlitt er 2004 mit seiner Familie einen schweren Autounfall. Seine Frau musste zweimal wiederbelebt werden. Jürgen K. trug ein Schleudertrauma und Beckenverletzungen davon. Geblieben sind Schlaflosigkeit, Nachtschweiss, Zusammenbrüche. «Mein Leben ist langsamer geworden», sagt der Vater von drei Kindern.

Den Krebs und die Schmerzen sieht man ihm nicht an, seine Haare sind voll. «Das erwartet man nicht von einem Krebspatienten», sagt er. Das komme manch einem verdächtig vor. Jürgen K. war zehn Jahre lang Angestellter beim Bund im technischen Dienst, nach dem Unfall war er arbeitsunfähig.

Jürgen K. kämpfte viele Jahre mit der IV. So wurde die Rente zu seinen Ungunsten berechnet. Und 2010 lehnte sie zunächst eine Beteiligung an den Schulungskosten ab, die er für seinen selbstgewählten beruflichen Wiedereinstieg brauchte.

2013 bot ihn die IV für ein psychiatrisches Gutachten auf, verbunden mit sofortigen Streichungen von Renten- und Schulungskosten. Eine Begründung erhielt er nicht. Ihm bleiben nur Vermutungen: Mit der 6. IV-Revision sind auch die psychisch Kranken auf dem Radar der IV. Als solcher wäre er in einer beruflichen Wiedereingliederungsmassnahme untergebracht worden, die die IV entlastet. Denn plötzlich drängte die IV, er solle die nächstbeste Arbeit annehmen.

Kam hinzu, dass die Pensionskasse über 150 000 Franken wegen angeblicher Überentschädigung zurückforderte. Jürgen K. erlitt Nervenzusammenbrüche, kämpfte nicht nur um seine Gesundheit, sondern auch um Haus, Familie, Ehe. Jürgen K. befreite sich selbst aus dem System. Der Gebäudetechniker fand eine Stelle im Bereich der Betriebsoptimierung. Ob seine Gesundheit mitspielt, weiss er nicht.

* Name der Redaktion bekannt

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