Darum gehts
- Einsätze können über längere Zeit oder nur kurz dauern
- Empathie und Präsenz sind wichtige Eigenschaften für diese ehrenamtliche Tätigkeit
- 170 aktive Freiwillige leisteten im Kanton Aargau im letzten Jahr 300 Einsätze
Bruno Graber (70) sitzt am Spitalbett und versucht mit dem Atem des sterbenden Menschen mitzugehen. Manchmal hebt und senkt sich dessen Brustkorb so schnell, dass Graber fast nicht folgen kann, manchmal so langsam, dass es ihm ebenso schwerfällt, seinen Rhythmus anzugleichen.
Bisweilen begleitet Bruno Graber Menschen über einen längeren Zeitraum, manchmal nur kurz. Häufig sind es halbe oder ganze Nächte, in denen er da ist. Kurz vor dem Sterben ist er jeden Tag ein paar Stunden da. Manchmal sind bei solchen Begleitungen tiefgründige Gespräche möglich, manchmal bleibt nur noch das einfühlsame Mitatmen.
Auch Hildegard Matt (66) besucht Schwerkranke, liest ihnen vor, hört zu, ist an ihrer Seite, wenn die letzten Stunden nahen. Sie sagt: «In dieser Situation muss man nicht mehr agieren. Sondern aushalten, dass einfach nichts mehr ist.»
Ein Netzwerk an Freiwilligen
Aushalten, dasitzen, präsent sein, aber auch zuhören, trösten, mitfühlen: Das ist die Aufgabe von Freiwilligen im Bereich Palliative Care und Begleitung. Bruno Graber und Hildegard Matt gehören im Kanton Aargau einem Netzwerk an von rund 170 aktiven, ausgebildeten Freiwilligen, die Einsätze bei schwer kranken und sterbenden Menschen leisten.
300 Mal rückten Freiwillige allein im vergangenen Jahr aus. «Extrem häufig», kommentiert Pfarrerin Martina Holder (57). Sie verantwortet die Ausbildung dieser Freiwilligen. Der Aargau nehme in der Schweiz eine Pionierrolle ein, sagt Holder: «Es ist einmalig, dass es im ganzen Kanton solche ehrenamtlichen Palliativ-Settings gibt.»
Freiwillige bringen etwas mit, was in unserem Gesundheitssystem unbezahlbar ist: Zeit. «Gute Präsenz am Lebensende ist sehr wichtig. Dafür sind wir auf Freiwillige angewiesen», sagt Martina Holder.
Die Politik zeigt Interesse und unterstützt
Neuerdings interessiert sich auch die Politik für die Arbeit dieser Freiwilligen. Denn der Bundesrat nimmt mit seiner Strategie Palliative Care die Kantone in die Pflicht. «Der Kanton Aargau hat jetzt ein grosses Ohr für das, was die Kirche in den letzten fünfzehn Jahren gemacht und aufgebaut hat, und möchte Seelsorge und Freiwillige stützen», sagt Holder.
Der Staat leistet nun beispielsweise Beiträge an die Aus- und Weiterbildung der Freiwilligen; zwei Drittel der Kosten trägt aber weiterhin ein ökumenisches Netzwerk verschiedener Kirchen. Martina Holder warnt: «Der Staat muss anerkennen, dass die psychosoziale, spirituelle Dimension von Menschlichkeit auch Finanzen braucht. Über kurz oder lang werden wir dies nicht mit Freiwilligen kompensieren können.»
Zuwendung statt Schmerzmittel
In der Palliativabteilung am Spital Zofingen ist es still. Vor einem Zimmer steht ein dekoriertes Tischchen mit einem aufgeschlagenen Gedichtband – gerade ist jemand verstorben. Auch hier sind Freiwillige im Einsatz; eine Gruppe von sechs Personen – darunter Bruno Graber –, die unkompliziert via Whatsapp-Chat für Einsätze angefragt werden.
Claudia Zinniker (49) ist Fachverantwortliche der Palliativstation und koordiniert die Freiwilligen. «Es ist wie ein Suchspiel, was der Patient im Moment braucht. Manchmal ist es kein Schmerzmittel. Sondern es ist Zuwendung», sagt sie beim Gespräch in einem unbelegten Zimmer.
Den Mitarbeitenden der Station bleibt nicht die Zeit, über Stunden bei den Patientinnen und Patienten zu sitzen. Wenn sie sehen, dass die Angehörigen eine Pause vertragen könnten, schlägt Zinniker den Besuch einer Freiwilligen vor. «Der erste Schritt fällt manchmal schwer. Doch häufig ist es sehr gut, wenn eine neutrale Person kommt.» Mit dieser komme ein Stück Normalität ins Krankenzimmer: Freiwillige sprechen auch mal übers Wetter oder über den Fussballmatch am Tag zuvor, sie machen ein Spiel oder lesen aus einem Buch vor.
Es wird mehr Freiwillige brauchen
Claudia Zinniker geht davon aus, dass der Bedarf an Freiwilligen zunimmt. «Nicht hier auf der Abteilung, aber zu Hause.» Denn laut Studien wollen 90 Prozent der Menschen in der Schweiz am liebsten zu Hause sterben. Heute sterben aber 85 Prozent im Spital.
Eine Wanderausstellung stellt eine Pionierin vor: Cicely Saunders (1918–2005) gilt als Mutter und Begründerin der modernen Hospiz- und Palliative-Care-Bewegung. Die englische Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin begleitete fünf Jahrzehnte lang Menschen am Ende ihres Lebens.
Mit ihrem Schmerzverständnis und ihrer Schmerzforschung sowie mit ihrem ganzheitlichen Begleit- und Pflegeansatz bewegte sie international viele Menschen, sich mit Themen wie Endlichkeit, Krankheit und Tod konstruktiv auseinanderzusetzen. Saunders war auch mehrmals in der Schweiz und pflegte hier Kontakte.
Infos zu Orten und Daten: palliative-begleitung.ch/wanderausstellung
Eine Wanderausstellung stellt eine Pionierin vor: Cicely Saunders (1918–2005) gilt als Mutter und Begründerin der modernen Hospiz- und Palliative-Care-Bewegung. Die englische Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin begleitete fünf Jahrzehnte lang Menschen am Ende ihres Lebens.
Mit ihrem Schmerzverständnis und ihrer Schmerzforschung sowie mit ihrem ganzheitlichen Begleit- und Pflegeansatz bewegte sie international viele Menschen, sich mit Themen wie Endlichkeit, Krankheit und Tod konstruktiv auseinanderzusetzen. Saunders war auch mehrmals in der Schweiz und pflegte hier Kontakte.
Infos zu Orten und Daten: palliative-begleitung.ch/wanderausstellung
Aus eigener Erfahrung weiss Claudia Zinniker: Das Sterben zu Hause sollte von den Angehörigen nicht unterschätzt werden. Nicht nur fehlt es an Ausrüstung wie einem Nachttopf, wenn die Person nicht mehr aufstehen kann. Sondern auch die zeitliche Belastung ist gross: Wenn die Spitex eine Stunde am Tag kommt, bleiben immer noch 23 Stunden, an denen die Angehörigen zuständig sind. «Es wäre wichtig, das soziale Netz einer kranken Person auf verschiedene Personen aufteilen zu können», sagt sie.
Warum aber machen Menschen wie Bruno Graber und Hildegard Matt diese Arbeit überhaupt? Als Freiwillige könnten sie sich doch auch zum Beispiel an einer Schule engagieren, in einer Umgebung, die vor Lebenskraft sprüht. Graber sagt: «Ich glaube, es ist hilfreich, den Tod nicht zu verdrängen. Nur so kann ich herausfinden, wie es ist, zu sterben. Das Sterben ist so individuell und hat viel damit zu tun, wie man gelebt hat.»
Hildegard Matt war vor einer längeren Familienphase Pflegefachfrau und arbeitete auf der Onkologie. Sie machte bereits 2013 in Aarau die Ausbildung als Freiwillige in der Palliativbegleitung. Auch sie findet, es sei wichtig, sich mit dem Sterben auseinanderzusetzen. Für sie ist aber ein weiterer Aspekt zentral für ihr Engagement: «Für die jüngeren Generationen mit ihren vollen Leben ist es gar nicht möglich, Eltern und Grosseltern bis zum letzten Atemzug zu begleiten. Hier müssen wir ‹Alten› uns selbst gegenseitig unterstützen.»
Trotzdem: Für diese Art von ehrenamtlicher Arbeit muss man gemacht sein. Empathie brauche es, sagt Palliativspezialistin Zinniker. «Gemittet» müsse man sein, sagt Bruno Graber, «mit beiden Beinen auf dem Boden».
Im Jahr 2024 wurden in der Schweiz insgesamt 590 Millionen Stunden für Freiwilligenarbeit aufgewendet. Ihr Gesamtwert beträgt über 33 Milliarden Franken. Diese Zahlen finden sich im «Freiwilligen-Monitor Schweiz 2025». Die Publikation ist soeben erschienen; sie gibt zum fünften Mal innert 20 Jahren einen Überblick über das ehrenamtliche Engagement in der Schweiz.
Der Freiwilligen-Monitor stellt fest: «Es gibt zweifellos Herausforderungen, es gibt aber keine grundsätzliche Krise der Freiwilligkeit.» Nach der Covid-19-Pandemie haben sich die Verhältnisse bei der formellen Freiwilligenarbeit (Engagement in Vereinen und Organisationen) wieder normalisiert.
Tiefer als vor der Pandemie ist hingegen die informelle Freiwilligenarbeit (Mithilfe bei gemeinnützigen Projekten, Veranstaltungen, Hilfeleistungen für andere, Betreuungs- und Pflegearbeit ausserhalb des eigenen Haushalts); sie liegt etwa auf dem Niveau von 2014.
Zwei Drittel der formellen Engagements sind weiterhin zeitlich unbegrenzt, es gibt aber eine Tendenz zu projektbezogenen oder kurzfristigeren Engagements.
Bei der informellen Freiwilligenarbeit leisten Frauen weiterhin deutlich mehr als Männer. Bei der formellen Freiwilligenarbeit hingegen beteiligen sich Männer immer noch stärker, doch die Unterschiede zwischen den Geschlechtern haben sich verringert. Besonders gross ist die Differenz in den älteren Altersgruppen: 2024 waren 28 Prozent der Männer zwischen 65 und 74 Jahren in einem formellen Ehrenamt tätig, verglichen mit 15 Prozent der Frauen dieser Altersgruppe.
Im Jahr 2024 wurden in der Schweiz insgesamt 590 Millionen Stunden für Freiwilligenarbeit aufgewendet. Ihr Gesamtwert beträgt über 33 Milliarden Franken. Diese Zahlen finden sich im «Freiwilligen-Monitor Schweiz 2025». Die Publikation ist soeben erschienen; sie gibt zum fünften Mal innert 20 Jahren einen Überblick über das ehrenamtliche Engagement in der Schweiz.
Der Freiwilligen-Monitor stellt fest: «Es gibt zweifellos Herausforderungen, es gibt aber keine grundsätzliche Krise der Freiwilligkeit.» Nach der Covid-19-Pandemie haben sich die Verhältnisse bei der formellen Freiwilligenarbeit (Engagement in Vereinen und Organisationen) wieder normalisiert.
Tiefer als vor der Pandemie ist hingegen die informelle Freiwilligenarbeit (Mithilfe bei gemeinnützigen Projekten, Veranstaltungen, Hilfeleistungen für andere, Betreuungs- und Pflegearbeit ausserhalb des eigenen Haushalts); sie liegt etwa auf dem Niveau von 2014.
Zwei Drittel der formellen Engagements sind weiterhin zeitlich unbegrenzt, es gibt aber eine Tendenz zu projektbezogenen oder kurzfristigeren Engagements.
Bei der informellen Freiwilligenarbeit leisten Frauen weiterhin deutlich mehr als Männer. Bei der formellen Freiwilligenarbeit hingegen beteiligen sich Männer immer noch stärker, doch die Unterschiede zwischen den Geschlechtern haben sich verringert. Besonders gross ist die Differenz in den älteren Altersgruppen: 2024 waren 28 Prozent der Männer zwischen 65 und 74 Jahren in einem formellen Ehrenamt tätig, verglichen mit 15 Prozent der Frauen dieser Altersgruppe.
Als Mann ist er die Ausnahme, an seinem Ausbildungsgang nahmen achtzehn Frauen und zwei Männer teil. In der Ausbildung (neunteilige Präsenzzeit zum Thema Tod, Sterben und Trauer, 24 Praktikumseinsätze) lernen die Freiwilligen, den leidenden Menschen ins Zentrum zu stellen. Die Ausbildung schliessen sie mit einer schriftlichen Arbeit und einem schweizweit anerkannten Zertifikat ab. Pfarrerin Holder bezeichnet die Freiwilligen in der Palliative Care als «Perlen in der Gesellschaft».
Was hilft nach einem Todesfall?
Wichtig ist es, bei dieser Art der Freiwilligenarbeit auch zu wissen, was einem guttut. Wie man Erlebtes verarbeitet. Hildegard Matt leistet regelmässig Einsätze im Pflegeheim Lindenfeld in Suhr AG. In ein rotes Büchlein notiert sie Daten und Fakten zu den Personen, sammelt Dankeskärtchen und Todesanzeigen. Stirbt eine Person, die sie begleitet hat, notiert sie auch das in ihr Buch. «Damit schliesse ich für mich ab und spüre: Jetzt ist es gut.»
Bruno Graber hat ein gutes familiäres Umfeld, er gestaltet gerne in seiner Schmiede neben seiner Wohnung, macht Spaziergänge oder reitet aus. Es tue ihm auch gut, die verstorbene Person noch mal zu sehen oder mit den Angehörigen zu sprechen. «Mit der Belastung kann ich gut umgehen», sagt er. «Ich gehe die Zeit der Begleitung und das Leben des Verstorbenen in Gedanken durch und versuche das Positive darin zu sehen.»
Graber arbeitete 36 Jahre im Gefängnis, er ist der ehemalige Leiter des Zentralgefängnisses der Justizvollzugsanstalt Lenzburg. Dort hat er eine Abteilung für alte Gefangene mit einem Palliativkonzept aufgebaut. Im Gefängnis führte er viele schwierige, anspruchsvolle Gespräche, bildete auch andere in diesem Bereich aus. Seine Erfahrung kommt ihm heute als Freiwilliger zugute. Wobei: «Häufig ist es wichtiger, zuzuhören. Oder Stille auszuhalten.»
Die Freiwilligen spüren viel Dankbarkeit. Von den kranken Menschen, die froh sind, wenn jemand da ist, der nicht unter Zeitdruck steht. Von den Angehörigen, die beruhigt sind, wenn die Mutter, der Vater, die Partnerin nicht allein ist.
Eindrückliche Begegnungen
Manchmal sind Freiwillige sogar die Einzigen, die zu Besuch kommen. Bruno Graber begleitete einen jüngeren Mann, der weder Angehörige noch nahe Freunde hatte – und dies zum Vorteil umdeutete, weil es niemanden gibt, der um ihn trauern müsse.
Und Hildegard Matt berichtet von einer Frau, die ein Hirntumor mitten aus dem Berufsleben gerissen hatte. Sie konnte sich nur mit den Augen mitteilen, lag im Pflegeheim im Bett. Allein. «Ihr Mann konnte mit dieser Situation nicht umgehen und besuchte sie nicht», erzählt Matt. Sie hingegen war während der Pandemiejahre über längere Zeit mehrmals die Woche an ihrer Seite. «Ich hatte das Gefühl, ich kann den Kontakt zu dieser Person nicht abbrechen, weil dann niemand mehr kommt.» Aushalten, dasitzen, präsent sein. Das hatte sie gelernt. Sie übernahm die Aufgabe. Freiwillig.