600 Jahre Niklaus von Flüe
Wem gehört der heilige Einsiedler?

Dieses Jahr feiert die Schweiz den 600. Geburtstag ihres Schutzpatrons Niklaus von Flüe. Im Vorfeld gibt es eine Kontroverse darum, wem der heilige Einsiedler gehört.
Publiziert: 16.01.2017 um 15:25 Uhr
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Aktualisiert: 12.10.2018 um 15:51 Uhr
Immer am 25. September gedenkt man in der Pfarr- und Wallfahrtskirche des Heiligen, der hier begraben liegt.
Foto: Urs Flüeler
Daniel Arnet

Am 2. März geht die Post ab. Dann kommt die 1-Franken-Sondermarke «Niklaus von Flüe 1417–2017» in Umlauf – die Schweizerische Post stellt sie nächsten Mittwoch vor.

Abgestempelt ist der Schweizer Schutzpatron aus Flüeli-Ranft OW aber schon jetzt. SVP-Kreise um alt Bundesrat Christoph Blocher (76) drücken dem 600. Geburtstag des Einsiedlers ihr eigenes Siegel auf. Vor wenigen Tagen kündigte das Komitee «Die Schweiz mit Bruder Klaus» an, am 19. August eine nationale Gedenkfeier abzuhalten. Mit von der Partie: der erzkonservative Churer Bischof Vitus Huonder.

Die obere und die untere Ranftkapelle in Flüeli-Ranft OW.

Ein Fall für ewig Gestrige?

Ist Niklaus von Flüe (1417–1487), der Bauer, der seine Familie verliess, um als Einsiedler in einem nahen Tobel Wunder zu bewirken, ein Fall für Ewiggestrige? «Nein, ganz im Gegenteil», sagt Barbara Beusch (53). Die Innerschweizer Sozialarbeiterin und freischaffende reformierte Pfarrerin veröffentlichte vor kurzem ihr Buch «Niklaus von Flüe – eine Begegnung mit dem Schweizer Heiligen». Und ihr Landsmann, Schriftsteller Thomas Hürlimann (66, «Das Einsiedler Welttheater»), fügt an: «Die Visionen von Bruder Klaus sind überzeitlich.»

Tatsächlich hat Niklaus von Flüe schon immer allen gehört. «Sein Nach-leben ist faszinierend, weil er trotz allen konfessionellen Krisen und Kriegen eine der ganz wenigen gemeinsamen Bezugspersonen aller Eidgenossen blieb, zumindest der deutschsprachigen», sagt der Schweizer Historiker Thomas Maissen (54, Autor von «Schweizer Heldengeschichten»).

Niklaus von Flüe ist irgendwann 1417 im Bauernhaus unter der Fluo als Sohn von Heinrich von Flüe und Hemma Ruobert hundert Jahre vor der Reformation auf die Welt gekommen, wodurch ihn sowohl Katholiken als auch Protestanten verehren konnten. Links-grüne Gegner des Waffenplatzes Rothenthurm SZ und des Atommüllendlagers in Wellenberg NW schrieben sich ihn 1987 und 1995 ebenso auf die Fahne wie die rechten Uno- und EWR-Gegner in den Jahren 1986 beziehungsweise 1992.

Auch die diesjährigen Feiern zum 600. Geburtstag sind keine einseitige Angelegenheit des Komitees «Die Schweiz mit Bruder Klaus». Für ein breiter ausgerichtetes Rahmenprogramm sorgt der Trägerverein «600 Jahre Niklaus von Flüe» mit «Mehr Ranft».

In diesem, für seine Zeit stattlichen Bauernhaus unter der Fluo kam Niklaus von Flüe als Sohn von Heinrich von Flüe und Hemma Ruobert zur Welt.
Foto: Keystone

Christoph Blocher wird in seiner Festrede vom 19. August bestimmt den berühmten Spruch «Machet den zun nit zu wit» (Macht den Zaun nicht zu weit) bemühen. Ein Bonmot notabene, das man erst 50 Jahre nach Bruder Klaus’ Tod erfunden und ihm zugeschrieben habe, so Maissen.

1917 waren «alle Anschauungen bei einem Feste vereinigt»

Bundespräsidentin Doris Leuthard (53) anderseits wird am Staatsakt vom 30. April auf dem Landenberg Sarnen die Rolle der Ehefrau des Eremiten herausstreichen: «Es freut mich, dass im Gedenkjahr 600 für Niklaus von Flüe auch die Bedeutung von Dorothea Wyss in Erinnerung gerufen und gewürdigt wird.»

Der Mann, der die Eidgenossen einst mit seinem geheimen Rat beim Stanser Vorkommnis 1481 geeint haben soll, spaltet nun also das Land – und sorgt für Parallelveranstaltungen. Das war vor hundert Jahren, am 500. Geburtstag des Nationalheiligen, noch anders. «Äussere Umstände machten es damals unmöglich, zu der Feier alle Eidgenossen einzuladen», schreibt die NZZ am 23. März 1917 und spielt damit auf den noch wütenden Ersten Weltkrieg an. «Aber trotzdem sind heute alle Landessprachen, alle Anschauungen bei dem Feste vereinigt.»

Und jetzt muss der Heilige für Parteipolitik herhalten. «Es ist ein Armutszeugnis für die Kirchen», sagt Schriftsteller Hürlimann. «Während sie mit gutmenschelnden Moralappellen den letzten Gläubigen vertreiben, übernimmt es eine Partei, auf den grossen Mystiker hinzuweisen.» Historiker Maissen sieht vor allem andere Politiker in der Pflicht: «Die anderen Parteien müssten die Erinnerungspolitik nicht als Feld der SVP abschreiben und aufgeben.» Er denkt da vor allem an die CVP, «immerhin ist das ein Heiliger, der in den katholischen Stammlanden sehr populär war und ist».

Bauten Bauern aus Flüeli dem Einsiedler 1468 in Fronarbeit eine Klause und eine Kapelle, die obere Ranftkapelle, so gibt es heute schweizweit über zwei Dutzend Bruder-Klaus-Kirchgemeinden – von Biel BE bis St. Gallen, von Kriens LU bis Basel.

An die obere Ranftkapelle ist die Klause angebaut, in der Niklaus von Flüe 20 Jahre hauste.
Foto: Keystone

Und Flüeli-Ranft ist mit dem Geburts- und Wohnhaus sowie den beiden Ranftkapellen ein bedeutender Wallfahrtsort. Papst Johannes Paul II. hat ihn am 14. Juni 1984 besucht.

Bruder Klaus soll die Schweiz 1940 vor Krieg bewahrt haben

Dieses Jahr pilgern wohl wieder mehrere Zehntausend Menschen zu den Gedenkorten des Mannes, der selber Pilger sein wollte, die Einsamkeit suchte und stattdessen schon zu Lebzeiten von Ratsuchenden belagert wurde oder andere Eremiten in den Ranft lockte – ein Popstar wider Willen. Er wollte kein Prediger sein, war kein Prophet.

Er will pilgern: Am Freitag, 16. Oktober 1467, bricht von Flüe auf, um sich in täglicher Betrachtung dem Leiden Christi hinzugeben. Doch seine Wallfahrt endet schon in Waldenburg bei Liestal mit einer Vision: Mystische Gestalten versperren ihm den Weg, dann sieht er das Städtchen in blutrotes Licht getaucht. Das ist der Ort, wo am 13. Mai 1940 eine hell leuchtende Hand am Himmel erscheint – die schützende Hand des Nationalheiligen. «Das Wunder von Waldenburg» soll die Schweiz vor einem Angriff der deutschen Armee bewahrt haben – das Land bleibt vom Zweiten Weltkrieg verschont.

Von Flüe kehrt nach Flüeli zurück und lässt sich im Ranft nieder – unweit vom ehemaligen Wohnhaus. Dort leben Dorothea Wyss, mit der Klaus über 20 Jahre verheiratet war, und die zehn gemeinsamen Kinder – fünf Mädchen und fünf Knaben, von ein bis zwanzig Jahren. «Heute weiss man, dass sie auch behinderte Kinder hatten», sagt Biograf Pirmin Meier (69). Eine ungleich grössere Belastung für die alleinerziehende Mutter. Der älteste Sohn Hans hilft ihr tatkräftig, indem er den Hof führt.

Bruder Klaus lebte von 1417 bis 1487. Dieses Jahr feiert man seinen 600. Geburtstag.
Foto: Keystone

Ein Vater, der seine Familie eigennützig verlässt, ist und bleibt ein brennendes Thema. 2016 griff der Schweizer Autor Peter Stamm (53) mit seinem Roman «Weit über das Land» dieses Motiv auf, auch wenn er beim Schreiben nicht an Niklaus von Flüe dachte – Stamm arbeitet nie mit historischen Personen. «Von Flüe ist aber bestimmt eine spannende Figur», sagt er. «Wenn man ihm gerecht werden will, muss man ihn allerdings im Kontext seiner Zeit zeigen. Man sollte ihn nicht für aktuelle politische Debatten einspannen.»

Der verheiratete Einsiedler war stets für die Familie zugänglich

Mensch, Mittler, Mystiker: Niklaus von Flüe ist vor seiner Erleuchtung (gemäss Psychiater C. G. Jung «der einzige hervorragende schweizerische Mystiker von Gottes Gnaden») ein erfolgreicher Bürger – Offizier im Alten Zürichkrieg (1440–1444), Ratsherr des Kantons, Richter in der Gemeinde und wohlhabender Bauer mit ansehnlichem Landbesitz. «Zu seiner Zeit fand eine massive Entwicklung zum Grossbauerntum statt», sagt Meier, der 1997 mit «Ich, Bruder Klaus von Flüe» ein Standardwerk zum Einsiedler geschaffen hat. Von Flüe hat Frau und Kinder also nicht in Armut zurückgelassen. Meier: «Klaus von Flüe war ein Lebemeister, der als einziger verheirateter Einsiedler für seine Familie 24 Stunden täglich zugänglich war.»

Kein halber Kilometer Gehweg, gut 50 Meter «nidsi» ins Tobel zur Grossen Melchaa – dort im Ranft haust die an Jesus gemahnende hagere Gestalt, bekleidet mit einem groben braunen Gewand, in der «Cluss»: unten ein Zimmer mit Ofen für den Winter, in dem der 1,78 Meter grosse Mann nicht aufrecht stehen kann; oben ein Holzraum, gut drei mal drei Meter, mit zwei Fenstern. «Wer sein Brett und den Stein sieht, die sein Lager waren, fühlt die unglaubliche Kraft, die in der engen Klause gewaltet hat», sagt Hürlimann.

Eine Kraft, welche die Kirche 1469 in einem inquisitorischen Verfahren erst kritisch prüfen wollte – 1649 spricht ihn Rom dann aber selig, 1947 schliesslich heilig. «Heute im 21. Jahrhundert besteht in unserem Kulturkreis keine Gefahr, auf dem Scheiterhaufen zu landen», schreibt Roland Gröbli (56), Präsident des wissenschaftlichen Beirats «600 Jahre Niklaus von Flüe». «Grösser ist die Gefahr, nicht wahrgenommen zu werden.»

Eine Gefahr, der Niklaus von Flüe nie anheimgefallen ist – und wohl nie anheimfallen wird.

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