Frau Opitz, Sie sind Mutter von zwei Töchtern. Haben Sie sich vor deren Geburt überlegt, was für eine Mutter Sie ihnen sein möchten?
Ich wollte lange keine Kinder. Als sehr aktive Feministin fand ich dieses ganze Familiengedöns und die Heirat völlig démodé und uninteressant. Und meine eigene Mutter hat stets durchblicken lassen, dass sie eigentlich zu Höherem geboren wäre.
Zu was?
Sie war ausgebildete Sängerin und hatte eine Berufsausbildung auf dem Notariat. Aber durch den Zweiten Weltkrieg veränderte sich alles. Sie lernte meinen Vater kennen und heiratete. Die Familienarbeit hat sie professionell organisiert, war aber nie richtig zufrieden mit sich und der Welt, und es ging ihr zeitweilig gesundheitlich nicht gut. Sie war für mich immer eine Person, die nicht wirklich aufgegangen ist in der Mutterrolle. Fürsorglich zwar, aber nie tüdelig-mütterlich. Sie hat uns vier Schwestern darauf eingeschworen, dass die richtige Perspektive die berufliche ist.
Das war fortschrittlich für jene Zeit.
Ja, sehr. Sie ist selber ohne Mutter aufgewachsen, war viel von Männern umgeben und schon früh emanzipiert. Sie hat sich mehr als Mensch denn als Frau im traditionellen Sinne wahrgenommen. Sie hat aber doch vier Kinder bekommen und sich jahrelang auf die Familie konzentriert. Mit knapp 50 Jahren machte sie ein Diplom zur Hauswirtschaftsmeisterin und gründete die Grüne Partei in Deutschland mit. Muttersein allein war ihr nie genug.
Wieso haben Sie sich dennoch für Kinder entschieden?
Das ist eine gute Frage. Die hab ich mir so systematisch nie gestellt. Ich habe meinen Mann kennengelernt – ein sehr fürsorglicher, liebevoller Mensch. Und da konnte ich mir das plötzlich vorstellen. Wir hatten ein sehr tolles Familienleben, weil sich mein Mann sehr auf die Vaterrolle eingelassen und mich für meine Berufskarriere entlastet hat. Ich habe also die Vorstellungen meiner Mutter realisiert und alles auf die wissenschaftliche Karriere gesetzt. Aber als die Kinder klein waren, war es schon irre anstrengend. Ich habe meiner Mutter lange vorgeworfen, dass sie immer so getan hat, als könnte das Muttersein einfach so nebenher laufen. Tut es nicht. Insofern ist es kein Wunder, dass sie es damals, in den 1950er-Jahren, nicht geschafft hat, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen.
Was eint alle Mütter?
Dass sie in einer fast exklusiven, sehr engen Beziehung zu Kindern stehen. Die Fürsorge macht für mich eine Mutter aus, sich für andere starkmachen, Schwächere unterstützen. Das lebe ich auch als «Doktormutter» in der Verantwortung für jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder Studierende.
Sind Sie eine mütterliche Professorin?
Ich habe im gleichen Jahr, in dem ich Mutter wurde, habilitiert und an der Universität Basel meine erste Professur angetreten. Das hat mich sehr geprägt. Mit der Mutterrolle habe ich die Dozentinnenrolle anders wahrgenommen und ausgefüllt. Aber ich musste aufpassen, keine Übermama zu werden, die alles organisieren und kontrollieren will – sowohl bei den Kindern wie bei den Studierenden. Vor zwei Jahren hat meine jüngere Tochter hier am Institut ihre ersten Schritte im Studium gemacht, sie kam zu mir in die Vorlesung. Zu meinem grossen Bedauern hat sie das Geschichtsstudium abgebrochen und studiert jetzt Maschinenbau, damit sie später mal einen sicheren Job findet. Sie hat also eine richtige Distanzierung von mir vorgenommen und sich von mir abgenabelt.
Sie haben über weibliche Biografien im 13. und 14. Jahrhundert promoviert. Wie hat sich damals die Mutterrolle gestaltet?
Die biografischen Texte, die ich untersucht habe, versuchten das religiös vorbildliche Leben von Frauen einzufangen. Obwohl die Gottesmutter Maria eine extrem starke Mutterfigur ist in der europäischen Kulturgeschichte, haben diese Frauen wenig marienähnliche Züge. Sie waren überwiegend ledig. Und wenn sie verheiratet waren, hatten sie keine Kinder, weil sie die Askese in der Ehe praktizierten. Also wie Maria und Josef. Maria hätte ja auch keine Kinder, wenn da nicht der heilige Geist gewesen wäre. Weibliche Existenz, die sich total gegen die Mutterrolle ausspricht, wurde als vorbildlich dargestellt. Das sind aus heutiger Sicht sehr fremde Frauenfiguren, weil die Mutterrolle sehr untergeordnet und eher negativ dargestellt wird.
Wann kam es zur Umkehr der Werte?
Die emotionale Zuwendung, die Mutterliebe, ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Das hängt damit zusammen, dass man in der Vormoderne mit Emotionen generell anders umgegangen ist. Nicht nur zwischen Müttern und Kindern, sondern auch zwischen Ehepartnern. Über Gefühle sprach man nicht. Jean-Jacques Rousseau und Heinrich Pestalozzi gehörten zu den prägenden Figuren der neuen Mutterrolle. Pestalozzi präsentierte in seinen pädagogischen Schriften eine sehr idealisierte Mutter, die den Kindern Lesen und Schreiben beibrachte und ihnen die Welt zeigte. Die Mutter als Schaltstelle der Familie. Davor waren Familien traditionell stark über den Vater, genauer: den Hausvater, definiert. Also in der Theorie. In der Praxis mussten die Frauen schon immer feste zupacken.
Wie sah das damals aus?
Die vormoderne Familie war keine Kleinfamilie, sondern eine Familiengemeinschaft mit Verwandten und Bediensteten. Und der ganze produktive Bereich, das Handwerk, war im eigenen Haus untergebracht. Die Frau führte zusammen mit dem Mann, nicht ganz gleichberechtigt natürlich, den Betrieb und das Familienleben. In Forschungen zum 18. Jahrhundert haben wir ausserdem gesehen, dass Grosseltern stark eingebunden waren in die Betreuung der Kinder. Wenn ein junges Paar heute Beruf und Familie richtig gut unter einen Hut bringen will, muss es Grosseltern oder Gotte und Götti in der Nähe haben, die sich regelmässig um die Kinder kümmern. Sonst klappt es nicht. Dieses Modell hatten wir in der Vormoderne, es löste sich aber mit der Industrialisierung auf.
Gab es in der Moderne eine Modell-Mutter?
In der Französischen Revolution wurde mit Rückgriff auf Rousseau keine ideale Mutter, aber ein neues, republikanisches Frauenideal propagiert. Es wirkt bis heute in der Figur der Marianne nach. Eine junge, kinderlose Frau, die aber Fruchtbarkeit symbolisiert: Sie hat traditionellerweise einen ordentlichen Busen und weibliche Rundungen. Die Aussage war und ist, dass alle Frauen Mütter der Nation sein sollen. Also Söhne gebären und aufziehen, um so die Nation zu tragen. Das war ein politisches Programm, das einerseits eine Art Demokratisierung der Mutterschaft darstellte, weil vor allem Frauen im Adel ihre Mutterschaft und Fruchtbarkeit vorher nicht so gezeigt haben. Das hiess aber auf der anderen Seite, dass alle Frauen, die nicht Mütter waren, nicht als gute Bürgerinnen galten.
Noch heute gilt Mutterschaft als erstrebenswertes Ideal. Für Kinderlosigkeit muss man sich noch immer erklären.
Das hat viel mit diesem Bild der guten Bürgerin zu tun. Der moderne Nationalstaat setzt auf viele Bürger, auf viele Söhne. Der Bevölkerungsdiskurs ist durchsetzt mit der Rede von zu wenig Nachwuchs. In patriotischnationalistischen Bewegungen werden Mütter deshalb verehrt.
Umgekehrt müssen sich Mütter, die sich für ein Dasein als Hausfrau entscheiden, ebenso oft rechtfertigen. Mütter können es heute niemandem recht machen.
Früher waren die Frauen- und Mutterrollen viel enger definiert. Es gab keine Pille. Wer heiratete, kriegte automatisch Kinder. Wer auf Kinder verzichten wollte, musste auf den Mann verzichten, da die Verhütungsmethoden noch nicht zuverlässig waren. Heute ist das Rollenbild diffuser. Frauen haben die Wahl, aber damit auch die Qual. Die Angst, dass der Kinderzug um die 40 abgefahren ist, treibt viele um. Und wenn wir gewählt haben, sind wir unsicher, ob wir richtig entschieden haben. Für Männer hingegen stellte sich früher genauso wie heute vor allem die Frage, was sie beruflich machen wollen. Vater werden können sie ja immer noch.
Entscheiden sich Frauen für Kinder und Karriere, scheitern viele.
Absolut, es ist ein Fluch und Segen zugleich. Die Gesellschaft, vor allem das Arbeitsleben, ist auf dem Männerbonus aufgebaut. Überall sind die Weichen auf den männlichen Ernährer hin gestellt, vom Steuersystem bis zur Tagesorganisation in normalen Betrieben. Solange das nicht grundlegend anders organisiert ist, ist es für Frauen, vor allem für Mütter, anstrengend und frustrierend oder führt zumindest dazu, dass sie sich individuell überfordert fühlen. Ich habe diese gesellschaftlichen Strukturen gleichsam physisch spüren können, als ich mit meinem Mann darum gerungen habe, wie wir das mit den Kindern organisieren, solange sie klein waren.
Was fanden Sie für einen Kompromiss?
Mein Mann hat keine Karriere gemacht und sich lieber um die Kinder gekümmert. Das war seine Entscheidung. Hätte er eine berufliche Karriere ebenso gewollt wie ich, hätten wir uns wahnsinnig präzise organisieren müssen. Irgendwann wäre der Druck auf uns als Paar wohl zu gross geworden, und wir wären heute vielleicht geschieden.
Gibt es ein Idealmodell?
Ich bin da nicht besonders fantasiebegabt. Ich sehe, woher die Verhältnisse, Vorstellungen und Probleme kommen, aber konkrete Lösungen für die Gegenwart sehe ich nicht. Was mir einleuchtet, wäre, das Arbeitsvolumen für alle zu reduzieren, beispielsweise von 42 auf 36 Stunden pro Woche. Die grosse Hilfestellung wäre aber, die Familienarbeit mehr zu würdigen und wahrzunehmen und sie nicht zu einem Privatvergnügen zu machen. So wie in Skandinavien. Aber dann lastet der Druck noch schwerer auf jenen, die keine Kinder haben wollen oder können. Die gelten dann als totale Loser. Sie sehen, ich kann hier nicht mit einem Konzept aufwarten.