Sexologe ordnet ein
Muss man einen Seitensprung beichten?

Fremdgehen erschüttert das Vertrauen in einer Beziehung und wirft moralische Fragen auf. Nach einem Seitensprung fragen sich Betroffene: Ist Ehrlichkeit wirklich die beste Lösung? Psychologe Ben Kneubühler sagt, in welchen Fällen kein Weg an der Wahrheit vorbeiführt.
Publiziert: 20.08.2025 um 12:19 Uhr
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Aktualisiert: 20.08.2025 um 17:12 Uhr
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Nach einem Seitensprung können Schuldgefühle besonders ausgeprägt sein.
Foto: Shutterstock

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Maja ZivadinovicFreie Journalistin Service-Team

Ein Moment der Schwäche, ein Drink zu viel oder Lust auf ein Abenteuer: Ein Seitensprung kann alles infrage stellen, was bis eben noch ein sicherer Hafen war. 

Für viele Paare ist Sex ausserhalb der Partnerschaft ein existenzieller Einschnitt. Nach dem Abenteuer sehen sich Fremdgängerinnen und Fremdgänger mit der Frage konfrontiert: Soll man den Seitensprung beichten?

Während die einen für radikale Ehrlichkeit plädieren, raten andere davon ab. Ihr Argument: Ein Geständnis diene mehr dem eigenen Gewissen als dem Wohl des Partners oder der Partnerin und kann irreparablen Schaden anrichten. 

Doch was ist wirklich der richtige Weg? Gibt es den überhaupt? Wir haben beim Psychologen Ben Kneubühler nachgefragt.

Blick: Warum geht man überhaupt fremd?
Ben Kneubühler: In den meisten Fällen hat es weniger mit sexueller Gier zu tun als mit emotionalem Mangel. Menschen gehen fremd, wenn sie sich in ihrer Beziehung nicht mehr gesehen, gewürdigt oder begehrt fühlen. Es ist oft ein stiller Protest gegen emotionale Einsamkeit oder gegen das Gefühl, nur noch zu funktionieren. Es geht fast nie nur um den Seitensprung, sondern um die Geschichte davor – um das, was gefehlt hat. Mir ist wichtig, zu betonen, dass unter Fremdgehen nicht verstanden wird, wenn ein Paar offen drüber redet, sexuell nicht exklusiv leben zu wollen.

Passieren Seitensprünge vor allem in Langzeitbeziehungen?
Sie treten dort häufiger auf, weil sich über die Jahre oft ungesehene Verletzungen, Kontaktlosigkeit oder sexuelle Distanz eingeschlichen haben. Viele Paare verlieren sich im Alltag, in Routinen. Wenn emotionale und körperliche Nähe abnimmt, entsteht ein Vakuum. Und genau in dieses dringt dann jemand anders ein – nicht geplant, aber eben auch nicht ganz zufällig.

Soll man einen One-Night-Stand beichten oder nicht?
Diese Frage wird oft auf einer sehr moralischen Ebene diskutiert. Ich sehe sie eher bindungspsychologisch: Wenn der One-Night-Stand Teil eines Musters ist – also Ausdruck einer tiefer liegenden Entfremdung oder eines Konflikts –, dann braucht es einen ehrlichen Dialog. Die Meinung, dass es nicht gesagt werden sollte, da dies nur der Entlastung von der eigenen Schuld dienen würde, teile ich nicht. Mit wem anders sollte diese Entlastung stattfinden, wenn nicht mit dem Menschen, den es betrifft und der einem am nächsten ist? Am Ende ist es eine persönliche Entscheidung und hängt vom Grad des Vertrauens, der Stärke der Bindung und der Abwägung von Vor- und Nachteilen ab.

Ben Kneubühler ist Psychotherapeut und Sexologe mit eigener Praxis in der Stadt Zürich.
Foto: zVg

Wie siehts bei einer Affäre aus? Beichten oder nicht?
Anders als beim One-Night-Stand geht es bei einer Affäre um mehr: Da stecken Bindung, Lügen, emotionale Energie drin. In so einem Fall führt langfristig kaum ein Weg an der Wahrheit vorbei – zumindest dann nicht, wenn man in der Beziehung wieder echte Nähe herstellen will. Ehrlichkeit ist schmerzhaft, aber oft auch die einzige Brücke zurück zur Verbundenheit.

Dann ist ein Seitensprung nicht automatisch der Tod einer Beziehung?
Nein, nicht zwingend. Er ist ein Einschnitt, keine Frage. Aber ob er zum Bruch führt oder zum Wendepunkt wird, hängt stark davon ab, wie das Paar mit dem Geschehenen umgeht. Ich habe Paare begleitet, für die der Seitensprung zur schmerzlichen, aber auch heilsamen Zäsur wurde.

Er kann eine Beziehung sogar stärken?
Ja, das kann passieren – wenn er zum Anlass genommen wird, nicht nur die Oberfläche zu flicken, sondern die Wurzel zu betrachten. Viele Paare führen nach so einer Krise zum ersten Mal echte Gespräche über Bedürfnisse, Verletzlichkeit, Nähe. Das kann tiefer verbinden als alles, was vorher war. Aber klar: Der Weg dahin ist steinig und braucht viel Mut, Ehrlichkeit und oft auch therapeutische Unterstützung.

Oft schläft der Sex in Langzeitbeziehungen ein. Ist das der gefährlichste Moment?
Es ist zumindest ein Warnsignal. Wenn Sexualität verschwindet, ist das selten nur ein körperliches Thema. Es zeigt oft, dass das emotionale Band gelitten hat. In der emotionsfokussierten Paartherapie sehen wir Sex nicht primär als Technik oder Trieb – sondern als Ausdruck von Verbundenheit. Wenn sich ein Mensch im Bett nicht mehr sicher, gesehen oder gewollt fühlt, zieht er sich irgendwann zurück. Zudem ist Sexualität auch eine Aktivität, welche die Verbundenheit stärken kann. Schade, wenn diese Ressource nicht genutzt wird.

Gehen mehr Männer oder Frauen fremd?
Früher waren es statistisch häufiger Männer – heute gleichen sich die Zahlen an. Interessanter ist aber, wie fremdgegangen wird: Männer eher körperlich, Frauen häufiger emotional – so das Klischee. Aber auch das löst sich zunehmend auf. Was bleibt, ist der gemeinsame Nenner: ein unerfülltes Bedürfnis nach Verbindung, Wertschätzung und Nähe.

Was raten Sie Paaren, bei denen jemand fremdgegangen ist?
Nicht übereilt reagieren. Trennung, Vergebung, Neuanfang – das alles braucht Zeit. Wichtiger als eine sofortige Entscheidung ist das Verstehen: Was ist da passiert – nicht nur in der Nacht, sondern im ganzen Beziehungsgefüge? Und dann: ins Gespräch gehen. Nicht nur über den Seitensprung, sondern auch darüber, was ihn möglich gemacht hat. Oft hilft es, sich dabei begleiten zu lassen – von jemandem, der das emotionale System eines Paares versteht.

Wie kann man Vertrauen nach einem Seitensprung wieder aufbauen?
Indem man sich wirklich zeigt. Nicht nur mit Reue, sondern mit tiefer Offenheit: «Ich sehe, dass ich dich verletzt habe. Und ich will verstehen, was wir tun können, damit du dich wieder sicher fühlst.» Vertrauen wächst nicht durch Worte, sondern durch Erfahrung. Durch Verlässlichkeit. Und durch das Gefühl: «Du bist mir wichtig – gerade jetzt.»

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