Erste Studie zum Porno-Konsum von Schweizer Paaren
«Pornografie ist für Paare ein riesiges Thema»

Über 90 Prozent der verheirateten oder fest liierten Schweizer Männer 
und 57 Prozent ihrer Frauen schauen regelmässig Pornos. Die Sexual­therapeutin Ursina Brun del Re fand in der ersten Schweizer Studie zum Thema überraschende Unterschiede zwischen den Geschlechtern.
Publiziert: 21.09.2019 um 12:24 Uhr
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Die Sexualtherapeutin hat die erste Studie zum Pornografie-Konsum von Paaren in der Schweiz durchgeführt. Und dabei Überraschendes herausgefunden.
Foto: Thomas Meier
Barbara Lukesch

Frau Brun del Re, Sie sind Psychologin und haben Ihre Dissertation zum «Einfluss des Porno­grafiekonsums auf die Sexualität in der Partnerschaft» geschrieben. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Ursina Brun del Re: Durch meine Patienten. Ich habe ursprünglich ganz normale Psychotherapien gemacht, in denen Depressionen, Angstzustände oder Essstörungen im Zentrum standen. Weil ich schon immer einen offenen Zugang zum Thema Sexualität hatte, habe ich die Leute meistens irgendwann gefragt, wie es denn in ihrem Sexual­leben laufe. Dabei kam dann auch Pornografie aufs Tapet, und zwar oft. Eine Frau fragte mich ­beispielsweise, ob sie es einfach ­akzeptieren müsse, dass ihr Mann Pornos schaue. Eine andere war verunsichert, weil sie befürchtete, ihr Mann sei mehr an den Pornodarstellerinnen interessiert als an ihr. Ich realisierte, wie stark Pornografie auch in Partnerschaften konsumiert wird und dass Männer wie Frauen ein grosses Bedürfnis haben, darüber zu reden.

In welchem Masse wird Pornografie von Männern und Frauen in Partnerschaften konsumiert?
Aus bisherigen Studien weiss man, dass mehr als 90 Prozent der Männer, egal ob single oder gebunden, Pornografie nutzen. Zu den Singlefrauen fehlen verlässliche Zahlen. Gemäss meiner Studie, der ersten in der Schweiz zum Thema Pornografie und Paare, konsumieren 57 Prozent der verheirateten oder fest liierten Frauen Pornos. Wird die Häufigkeit des Konsums erhoben, übertreffen die Männer die Frauen noch deutlicher.

Wie sah die Versuchsanordnung Ihrer Forschungsarbeit aus?
Ich habe eine Online-Studie durchgeführt. Daran konnten Menschen, die in einer mindestens einjährigen hetero­sexuellen Beziehung leben, anonym teilnehmen. Die ­Resonanz war gewaltig: Mehr als 1000 Schweizerinnen und Schweizer machten mit – was für mich ein eindrücklicher Beleg für die Brisanz des Themas war.

Kennt sich mit ­Sexualität aus

Die Bündnerin Ursina Brun del Re (38) ­studierte Psychologie und betreibt heute in Zürich eine Praxis als Psycho-, Sexual- und Paartherapeutin. Ihre Dissertation trägt den Titel «Einfluss von Pornografiekonsum auf die Sexualität in der Partnerschaft». Sie ist verheiratet und hat vier Kinder.

Die Bündnerin Ursina Brun del Re (38) ­studierte Psychologie und betreibt heute in Zürich eine Praxis als Psycho-, Sexual- und Paartherapeutin. Ihre Dissertation trägt den Titel «Einfluss von Pornografiekonsum auf die Sexualität in der Partnerschaft». Sie ist verheiratet und hat vier Kinder.

Welche Fragen haben Sie besonders interessiert?
Etwa die der Häufigkeit des Konsums – diese Frage blieb in der ­Forschung bisher völlig unbeachtet. Es ist natürlich ein Unterschied, ob ­jemand nur einmal pro Monat oder täglich Pornografie kon­sumiert. Wer sich jeden Tag einen anschaut, hat ja praktisch keine Zeit mehr, ­in der er seine Paar­sexualität leben kann. So eine Person, in der Regel sind das Männer, verlegt auch den ­Fokus ihrer Sexualität immer mehr in die virtuelle Welt. Von den betroffenen Frauen höre ich dann in der Praxis Sätze wie: «Seit mein Mann Pornos schaut, spüre ich ihn überhaupt nicht mehr. Ich habe ­immer mehr das Gefühl, er habe ­irgendein Bild im Kopf, wenn wir im Bett sind – und ich weiss nicht, ob er jetzt im Porno ist oder bei mir.»

Sie fragten auch nach der ­Einstellung des Paares zur ­Pornografie und zur Kommu­nikation über das Thema. Was ­haben Sie herausgefunden?
Was mich wirklich überrascht hat, sind die grossen Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Frauen begegnen ihrem eigenen Pornokonsum wesentlich entspannter als Männer dem ihren. Sie finden es ganz in Ordnung, dass sie zwar in einer Partnerschaft leben, daneben aber noch ihre eigene Sexualität pflegen, indem sie sich einen Porno anschauen und dazu masturbieren. Sobald es dann aber um den ­Konsum ihrer Männer geht, sind Frauen sehr viel restriktiver und ­bekommen riesige Probleme.

Was heisst das konkret?
Die Frauen fühlen sich hintergangen und betrogen und fürchten, dass ihre Partner mit der Zeit jedes Interesse an ihnen verlieren.

Wie sieht das bei Männern aus?
Männer finden es regelrecht sexy, wenn sie erfahren, dass ihre Partnerin sich hin und wieder einen Porno anschaut. Dagegen plagt sie häufig ein schlechtes Gewissen, wenn sie an ihren eigenen, oft sehr intensiven Konsum denken. Viele fürchten, sie könnten die Kontrolle verlieren. Sie leiden regelrecht und glauben, sie könnten ihren Frauen diese Seite ihrer Sexualität nicht zumuten, und versuchen, sie heimlich auszuleben. Aber je heimlicher sie es tun, umso alarmierter sind ihre Frauen – irgendetwas bekommen sie natürlich mit. Sie denken: Was macht der da eigentlich? Das verstärkt wiederum ihr Misstrauen und schürt die Angst, ihm mit der Zeit nicht mehr zu genügen.

Wie erklären Sie sich, dass viele Frauen den Pornokonsum ihrer Männer mit einer Abwertung ­ihrer Person gleichsetzen?
Ich bin überzeugt, dass das sehr viel damit zu tun hat, dass Frauen es immer noch nicht gewohnt sind, über ihre sexuellen Wünsche zu ­reden. Sie verharren oft in einer passiven Rolle. Wenn sie aber ­ihrem Mann nicht sagen können, was sie gern hätten und was sie nicht so gernhaben, bekommen sie mit der Zeit Angst. Angst, dass ihr Mann sich in den Pornos das anschaut, was er im Grunde mit ihnen machen möchte, aber nicht bekommt. Das setzt die Abwertungsspirale in Gang.

Was sagen denn Männer dazu?
Die sind oftmals erstaunt, wenn sie erfahren, was für Sorgen sich ihre Frauen machen. Sie sagen: «Aber meine Frau muss doch keine Angst haben – das sind doch nur Pornos, die mit der Realität überhaupt nichts zu tun haben.»

Warum reagieren Männer so ansprechbar auf Pornografie?
Es gibt für Männer und Frauen ­unterschiedliche Erregungsquellen. Für 90 Prozent der Männer ­stehen visuelle Reize klar im Vordergrund, während Frauen zwar auch darauf ansprechen, aber viel mehr über das Spüren, Riechen und Hören stimuliert werden. Das ist der Hauptgrund, warum Männer so stark auf Bilder und Filme pornografischen Inhalts abfahren. Auch in der Sexualität mit ihrer Partnerin geniessen sie es besonders, wenn sie den Körper ihrer Frau, deren Brüste, ihren Hintern betrachten können.

Die gängigen Pornos sind auch stark auf den männlichen ­Betrachter zugeschnitten.
Das ist so, ganz klar. Mainstream-Pornos werden nahezu ausschliesslich von männlichen Regisseuren für ein männliches Publikum hergestellt. Vom Inhalt her braucht es möglichst viele starke Reize, die oft auch Gewalt enthalten; es muss schnell zur Sache gehen. Man weiss aus Untersuchungen, dass Männer selten einen Film zu Ende schauen; sie suchen immer wieder neue Impulse. Frauen hingegen sehen sich gern mal einen tantrischen Porno an, der sich über eine Stunde hinzieht und mit einer Handlung versehen ist. Männer wollen keine Story, sie wollen Geschlechtsteile sehen, am besten in Nahaufnahme, Penetrationen ...

... und Ejakulationen.
Das hängt davon ab, wie stark sich ein Mann mit dem männlichen Hauptdarsteller im Porno identi­fiziert. Es gibt zwei Gruppen: Die eine sieht im Protagonisten ein Vorbild und findet es attraktiv, wenn er über einen grossen Penis und viel Potenz, sprich grosses Stehvermögen und sichtbare Ejakulation, verfügt. Die anderen, die ein geringes Selbstwertgefühl haben, fühlen sich eher bedroht von einem solchen Mann und richten ihr Augenmerk auf die Darstellerinnen. Die wollen den Penis und den Samenerguss gar nicht gross sehen.

Welchen Genuss ziehen Männer beziehungsweise Frauen aus dem Konsum von Pornofilmen?
Auch da gibt es grosse Unterschiede. Frauen wollen ihre Sexualität in die Länge ziehen, den Genuss vertiefen und auskosten. In Umfragen sagen sie auch, sie liessen sich von Pornos für den realen Sex mit ihren Partnern inspirieren. Männer konsumieren Pornos meistens für die schnelle Entladung. Darum muss es für sie auch schnell zur Sache gehen, am besten gekoppelt an starke Reize, und das umso mehr, je näher der Orgasmus rückt: krassere Bilder, mehr Tempo, mehr Druck.

Was sagen Sie zu den Rollen­bildern, die in der Mainstream-Pornografie verbreitet werden?
Frauen- wie Männerbilder sind schlimm, oft sehr schlimm. Aber ich gehe davon aus, dass ein gesunder erwachsener Mann beim Konsumieren eines Pornos, der oft schockierend viel Gewalt gegenüber Frauen enthält, den Unterschied zur Realität machen kann. Viele Männer erzählen mir in der Praxis auch, dass sie nach dem Orgasmus selber erschrecken, was sie da gerade erregt hat, und dass da ein himmelweiter Unterschied zu ihrer realen Paarsexualität bestehe. Insofern halte ich nicht viel davon, die Pornografie ausschliesslich zu pathologisieren. Die Leute schauen es so oder so und müssen wissen, wie sie damit umgehen können.

Wie lässt sich der Umgang mit Pornografie am besten in den Alltag eines Paares integrieren?
Indem man darüber redet und sich auch mal gemeinsam einen Film anschaut. Auf diese Weise kommt ein Paar leichter auf die eigenen sexuellen Bedürfnisse zu sprechen und kann die Frage, welchen Stellenwert Pornografie für sie und ihn hat, entspannter klären. So lassen sich auf beiden Seiten Ängste und schlechte Gefühle abbauen: Frauen verstehen besser, dass die virtuelle Pornowelt keine Gefahr für ihre Beziehung sein muss; und Männer begegnen ihrem eigenen Konsum nachsichtiger und verteufeln ihn nicht mehr so stark.

Klingt plausibel. Aber dazu muss ein Paar es erst einmal wagen, das Thema anzuschneiden.
Das ist tatsächlich ein riesiges Tabu. In meiner Praxis erlebe ich es regelmässig, dass Paare zunächst unter einer grossen Anspannung stehen, wenn wir uns dem Thema nähern. Wie sollen sie nur über so etwas Privates mit einer fremden Person reden? Aber wenn das Eis gebrochen ist, ergreifen die meisten noch so gern die Chance und ­erzählen, was sie bedrückt.

Angesichts dieser grossen Tabuisierung staunt man umso mehr, dass Abertausende Leute ihre ­intimsten Sexvideos, alles Laienproduktionen, im Internet weltweit frei zugänglich machen – ohne ihre Gesichter abzudecken.
Dieses Phänomen verstehe ich auch nicht richtig. Klar spielen da Voyeurismus und Exhibitionismus hinein – zwei grosse Themen innerhalb der Sexologie. Aber das ­erklärt noch nicht, warum Menschen ihr Intimstes ohne Rücksicht auf Verluste zur Schau stellen. Man denke bloss einmal an einen künftigen ­Arbeitgeber, der auf so ein Video stösst. Vielleicht rutschen wir ­Menschen zwischen den beiden ­Extremen Tabu und Offenheit hin und her und erleben einen besonderen Kitzel bei der Grenzüberschreitung.

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