Darum gehts
Anduena Rusiti (33) macht dem Luzerner Kantonsspital schwere Vorwürfe: Ihr Sohn Nelian könnte noch leben, hätte man ihre Sorgen ernst genommen. Im Februar erkrankte zunächst Nelians eineiiger Zwillingsbruder an einer Grippe und musste ins Spital. Nelian zeigte ähnliche Symptome, wurde aber nach Hause geschickt. Als sich sein Zustand verschlechterte, brachte ihn seine Mutter erneut ins Spital. Sie erzählt, dass er nur widerwillig aufgenommen worden sei und man ihre Sorgen nicht ernst genommen habe. Am 9. Februar, genau eine Woche nach seinem ersten Geburtstag, starb Nelian in der Kinderklinik.
Laut Martin Stocker, dem Leiter des Kinderspitals am Luzerner Kantonsspital (LUKS), hat der tragische Vorfall Konsequenzen. Der Mutter kündigte er an, er werde sich für die Einführung einer Patientenschutzregelung an seiner Klinik einsetzen – inspiriert von der britischen Initiative «Martha’s Rule».
Was ist «Martha’s Rule»?
«Martha war dreizehn, sie hatte ihr ganzes Leben vor sich. Es stellte sich heraus, dass unser Vertrauen in die Ärzte fatal war. Ich wünschte, ich hätte dies gewusst», schreibt Journalistin Merope Mills über ihre Tochter in der britischen Zeitung «Guardian».
2021 stürzte Martha Mills in den Familienferien in Wales mit dem Velo und fiel auf den Lenker. Ihre Eltern brachten sie notfallmässig ins Spital, wo eine Verletzung der Bauchspeicheldrüse festgestellt wurde, später wurde Martha nach London verlegt. Ihr Zustand verschlechterte sich dramatisch, sie hatte starke Blutungen.
Trotzdem wurde Martha nicht auf die Intensivstation verlegt – beziehungsweise viel zu spät. Sie starb am 31. August 2021 kurz vor ihrem 14. Geburtstag an einer Sepsis – eine Sorge, die ihre Eltern mehrfach geäussert hatten. Ein Untersuchungsbericht kam später zum Schluss, dass Martha mit hoher Wahrscheinlichkeit überlebt hätte, wenn das medizinische Personal die Sorgen der Eltern ernst genommen hätte.
Nach Marthas Tod machte ihre Mutter Merope Mills den Fall öffentlich. Der Artikel löste eine Welle der Betroffenheit aus. Parteien und führende britische Medien unterstützten die Forderung nach einem verbindlichen Eskalationsrecht für Patientinnen und Angehörige. «Martha’s Rule» ist eine nationale Initiative zur Stärkung der Patientensicherheit in England. Sie gibt Patientinnen, Patienten und ihren Angehörigen mehr Mitspracherecht, wenn sie das Gefühl haben, dass medizinisches Personal nicht angemessen auf eine Verschlechterung des Gesundheitszustands reagiert.
Regelung beruht auf drei Säulen
Und so funktioniert «Martha’s Rule»:
- Patientinnen und Patienten werden täglich systematisch zu ihrem Zustand befragt.
- Medizinisches Personal darf jederzeit ein externes Team zur Einschätzung beiziehen.
- Angehörige und Betreuungspersonen können eine Eskalation eigenständig auslösen – die Möglichkeit wird im Spital sichtbar kommuniziert.
143 Spitäler in England testen dieses Vorgehen derzeit in einem Pilotprojekt, erste Auswertungen werden für Ende 2025 erwartet. Später ist eine flächendeckende Einführung vorgesehen.
Wäre so eine Regel auch in der Schweiz sinnvoll?
In der Schweiz steht Dorit Djelid vom Spitalverband H+ einer flächendeckenden Patientenschutzregelung skeptisch gegenüber. «Anders als in Grossbritannien ist das Schweizer Gesundheitswesen dezentral und nicht staatlich organisiert, sodass nicht alle Massnahmen flächendeckend eingeführt werden, auch weil nicht alle Massnahmen in jedem Spital gleich sinnvoll sind.»
Lokale Initiativen, wie aktuell im Kantonsspital Luzern, findet der Verband jedoch nicht verkehrt: «Die Spitäler und Kliniken sind frei, selbst Regeln und Massnahmen wie beispielsweise ‹Martha’s Rule› einzuführen. Zudem haben Patientinnen und Patienten immer die Möglichkeit, sich im Falle von Unstimmigkeiten an die spitalinterne Ombuds- oder Patientenstelle oder an die nationale Patientenorganisation zu wenden.»
Patientenverband setzt auf mehr Kommunikation
Dem stimmt Mario Fasshauer, Geschäftsleiter des Dachverbands Schweizerischer Patientenstellen, zu: «Auch wenn eine solche Regelung in sehr seltenen Einzelfällen helfen könnte, würde sie den administrativen Aufwand und die Gesundheitskosten womöglich erhöhen.» Das Problem lasse sich nicht durch Gesetze lösen. «Ich habe nicht das Gefühl, dass es dafür eine zusätzliche rechtliche Regelung braucht. Vielmehr sehe ich ein strukturelles Problem: Im Gesundheitswesen fehlt es oft an Zeit. Mit mehr Zeit wäre eine gute Kommunikation zwischen medizinischem Personal, Patientinnen, Patienten und Angehörigen nachhaltiger zu gewährleisten – und damit könnten tragische Einzelfälle wie jener in Luzern womöglich verhindert werden.»