Geschlechtsunterschiede werden ignoriert
Darum sterben Frauen eher an einem Herzinfarkt

Es zeigt sich bei Symptomen, Medikamenten und Therapien: Männer und Frauen sind verschieden. Dass das oft nicht beachtet wird, hat schwerwiegende Folgen.
Publiziert: 10.11.2019 um 10:29 Uhr
|
Aktualisiert: 19.03.2021 um 17:13 Uhr
1/2
Medikamente können je nach Geschlecht unterschiedlich wirken.
Foto: Pexels/jeshoots.com
Roman Rey @higgsmag

Claudia Schmidt, um die 40 Jahre alt, arbeitet als Coiffeuse in einer deutschen Kleinstadt. Sie besucht am Montagmorgen ihren Hausarzt, denn schon seit Freitagnachmittag fühlt sie sich nicht wohl, hat merkwürdige Schmerzen im Oberbauch.

Der Hausarzt diagnostiziert eine Magenverstimmung, gibt ihr Medikamente. Nach zwei Tage könne sie wieder arbeiten gehen. Doch die Beschwerden verschwinden nicht, Schmidt geht auf die Notaufnahme. Auch dort findet man nichts, schickt sie wieder nach Hause.

Eine Woche später wird Schmidt in einer Apotheke der Blutdruck gemessen – er ist ungewöhnlich hoch. Sie kommt die Notaufnahme eines anderen Spitals. Dort erhält sie die Nachricht: «Sie haben einen Herzinfarkt.»

Das ist eine wahre Geschichte – nur der Name ist erfunden. Wie konnte so etwas passieren? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Gendermedizin. Ihr Ziel ist es, dass Frauen und Männer unter Berücksichtigung ihrer Unterschiede optimal behandelt werden.

«Bei einem Mann hätte man schon sehr früh gesagt: das ist ein Herzinfarkt», sagt Vera Regitz-Zagrosek zu dem Fall. «Denn es gilt als klassische Männerkrankheit». Die deutsche Kardiologin ist zurzeit Gastprofessorin für Gendermedizin an der Medizinischen Fakultät Universität Zürich.

Der Mann gilt als Prototyp

Bei Frauen zeige sich aber ein Herzinfarkt oft anders. Oft ist er mittels EKG nur schwerer erkennbar, wenn man nicht weiss, worauf man achten muss. Da viele Ärztinnen und Ärzte wenig bis nichts über Gendermedizin wissen, passiert das immer wieder. Das trägt dazu bei, dass Frauen unter 65 bei einem Herzinfarkt ein höheres Sterberisiko haben als Männer.

Vera Regitz-Zagrosek ist auf einer Mission, das zu ändern. Die 65-Jährige ist eine Pionierin auf dem Gebiet: 2003 hat sie das Institut für Gendermedizin an der Berliner Universitätsklinik Charité gegründet – Deutschlands erstes und bis heute einziges Institut für Geschlechterforschung in der Medizin.

In der Medizin wird der Mann oft noch als Prototyp gesehen. Welche Folgen das haben kann, zeigt das Herzmedikament Digitalis. Eine ältere Studie besagte, dass Digitalis das Risiko eines Herztods verringert. Doch eine nachträgliche Datenanalyse, bei der die Geschlechter getrennt betrachtet wurden, kam zum Schluss: Das gilt nur für Männer. Frauen hatten nach einer Digitalis-Behandlung sogar ein höheres Sterberisiko als die Gruppe, die mit einem Placebo behandelt wurde.

Bei Frauen wirkte das Medikament zudem schon in geringeren Dosen als bei Männern. Das hat damit zu tun, dass sich der Stoffwechsel und Hormonhaushalt bei Frauen anders verhält. Bei anderen Medikamenten verhält es sich ähnlich. Das Schlafmittel Zolpidem zum Beispiel bauen Frauen viel langsamer ab als Männer und sollten deshalb nur die halbe Dosis einnehmen. In den USA ist dies sogar auf der Packungsbeilage vermerkt.

Auch Männer können profitieren

Wie viele Medikamente sich bei Männern und Frauen unterschiedlich auswirken, ist ungewiss. «Nur in rund 15 Prozent der Arzneimittel-Zulassungsstudien werden die Nebenwirkungen geschlechtsspezifisch berichtet», sagt Regitz-Zagrosek. Und es werden wenige Frauen eingeschlossen. Forscher argumentieren, dass der Hormonhaushalt bei Frauen schwanke und die Studienresultate deshalb unzuverlässig würden. Ausserdem gelten Frauen als Risiko, da sie jederzeit schwanger werden und die Medikamente die Föten gefährden könnten. Dies ist spätestens seit dem Skandal um das Schlafmittel Contergan bekannt: in den 60er-Jahren kamen Tausende von fehlgebildeten Kindern auf die Welt, weil ihre Mütter das Medikament eingenommen hatten – unter anderem gegen Schwangerschaftsübelkeit.

Das seien aber nicht die wahren Gründe, warum Frauen so wenig berücksichtig werden, ist Vera Regitz-Zagrosek überzeugt. Sondern: «Frauen sind in der Medizin untervertreten», sagt die 65-Jährige. Zwar gebe es in Deutschland seit rund 25 Jahren mehr Medizinstudentinnen als Studenten, aber in den Leitungsstrukturen der medizinischen Institutionen machen Frauen weniger als 10 Prozent aus. In der Schweiz sieht die Situation ähnlich aus. Deshalb bietet die Kardiologin in Zürich Workshops für die Karriereplanung an.

Bei den Frauen besteht viel Aufholbedarf – aber die Gendermedizin hilft nicht nur ihnen. «Der plötzliche Herztod betrifft fast nur Männer», sagt Vera Regiz-Zagrosek. Lange wusste man nicht, woran das liegen könnte. Ein Tierversuch an der Berliner Charité ergab, dass weibliche Mäuse eine bestimmte bösartige Herzrhythmusstörung fast nie bekommen. Die Forschenden konnten dies auf ein Molekül zurückführen, das unter dem Einfluss des Hormons Östrogen einen schützenden Einfluss hat. Dieses Molekül dient als Vorbild für ein Arzneimittel, das sich gerade in der Entwicklungsverfahren befindet. Ohne die Geschlechter isoliert zu betrachten, wäre diese Erkenntnis gar nicht möglich gewesen.

Schweizer Unis planen Studiengang

Deshalb bieten die Universitäten Bern und Zürich nächstes Jahr gemeinsam einen CAS-Weiterbildungs-Studiengang in Gendermedizin an. Wenn alle Instanzen grünes Licht geben, geht es im Mai 2020 los. Es wird in der Schweiz der erste Studiengang dieser Art sein.

Das ist aber nur der Anfang – zumindest, wenn es nach Vera Regitz-Zagrosek geht. Sie wünscht sich, dass die Gendermedizin als Pflichtstoff ins medizinische Grundstudium aufgenommen wird. «Wenn die Medizin etwas weiblicher wird», ist sie überzeugt, «profitieren alle davon.»

Mehr Wissen auf higgs – Facts statt Fake News.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?