Gerald Hüther, Wie kommen Sie als Neurowissenschaftler auf die Idee, den Spieltrieb des Menschen retten zu wollen?
Gerald Hüther: Aus meinen Beobachtungen erlebe ich, dass Kinder für das freie Spiel oft keine Zeit mehr haben. Aus Angst, die Kinder könnten den Anschluss an eine globalisierte Bildungsgesellschaft verlieren, versuchen Eltern sie auf jede erdenkliche Art zu fördern: Frühenglisch, Mal- und Musikkurse wechseln sich oft in einem straffen Zeitplan ab. Es kommen so viele Reize von aussen, dass Kinder oft gar nicht mehr spielen können, selbst wenn sie mal Zeit hätten.
Mehr Frühförderung, weniger Spiel. Was ist so schlimm daran?
Spielen ist Dünger für das Gehirn und Kraftfutter für Kinderseelen. Aus der Tierforschung weiss man: Je intelligenter ein Tier ist, desto mehr spielt es. Lernpsychologen nennen es selbstorganisiertes, intrinsisch gesteuertes Lernen. Diese Art des Lernens ist entscheidend dafür, wie gut sich ein Tier oder Menschenkind später in der Welt zurechtfindet. Aus der Gehirnforschung weiss man, dass völlig absichtsloses Spielen für die besten Vernetzungen im Gehirn sorgt.
Was geht dabei im Gehirn vor sich?
Botenstoffe, die das Spielen freisetzt – Katecholamine, endogene Opiate und andere Peptide –, haben einen wachstumsstimulierenden Effekt auf die neuronalen Vernetzungen. Dadurch bauen sich bestehende Netzwerke weiter aus. Das passiert allerdings nur durch das Spielen, nicht durch Belehrungen und Fördermassnahmen. Damit das riesige Potential an Vernetzungsmöglichkeiten im Gehirn möglichst gut stabilisiert werden kann und die in unseren Kindern angelegten Talente zur Entfaltung kommen, müssen wir ihnen so lange wie möglich die Gelegenheit bieten, spielen zu können.
Für die kindliche Hirnentwicklung sind Spiele also wichtig. Doch welche Spiele?
Kinder suchen sich die Spiele, die zu ihnen passen. In jeder Lebens- und Entwicklungsphase verfügen Kinder über ein sicheres Gespür dafür, welche Art von Spiel sie weiterbringen kann. Am Anfang sind es eher Spiele mit Gegenständen, später dann Als-ob-Spiele, Rollenspiele und Regelspiele, zuletzt Wettkampfspiele und Ernstspiele. Jede Spielphase bereitet die nächste vor. Kein noch so teures Förderprogramm könnte Vergleichbares leisten.
Wie lange sollte die tägliche Spielzeit dauern?
Das ist keine Frage der Zeit. Das Wichtigste für Kinder ist Zuwendung. Erst dann fühlen sie sich angenommen. Eine ganz einfache Methode der Zuwendung ist, wenn man mit dem Kind spielt. Die Zuwendung passiert dann von ganz allein, man braucht sich gar keine Mühe zu geben. Schenken Sie Ihrem Kind einen Tag im Schnee. Sie können ein Iglu bauen, auf jeden Fall Schneemänner. Ihr Kind wird auf eine Unmenge an Ideen kommen.
Haben Sie mit Ihren Töchtern gespielt?
Wir haben mit ihnen ganz oft «Mensch ärgere dich nicht» gespielt. Dabei kann man spielerisch ausprobieren, was geht. Wie der Papa reagiert, wenn man ihn besiegt. Oder was passiert, wenn man sich mit der Schwester verbündet. Und ganz nebenbei lernen Kinder zählen, und ihre kognitiven sowie analytischen Fähigkeiten verbessern sich, was aber gar nicht so wichtig ist. Wichtig ist das zweckfreie Spielen.
Was halten Sie von Handy- und Computerspielen?
Kinder greifen nur deshalb zum Handy, weil ihnen Erwachsene keine attraktivere Beschäftigung anbieten. Schlagen Sie zwölfjährigen Knaben vor, eine Baumhütte zu bauen. Stellen Sie den Kindern nach zwei Stunden die Frage, ob sie lieber mit dem Smartphone spielen wollen. Keines wird Ja sagen. Denn Kinder sind Gestalter und Entdecker. Sie wollen mit anderen in Kontakt treten. Digitale Medien sind lediglich eine Art Ersatz, um mit anderen in Kontakt zu treten.
Wir müssen also mit unseren Kindern viel mehr spielen?
Das ist ein wichtiger Punkt. Eltern sollten Kinder zum Spielen einladen und ermutigen. Als Impulsgeber und Spielpartner sind Eltern und Grosseltern sehr wichtig. Der andere wichtige Punkt ist: Wir sollten unsere Kinder auch immer wieder in Situationen bringen, in denen sie Langeweile haben. Das ist zwar zuerst nicht lustig für die Eltern, weil die Kinder protestieren. Wenn sie dann aber aus der Trotz- und Meckerphase raus sind, fängt das Gehirn der Kinder von alleine an zu arbeiten, und sie suchen sich etwas zum Spielen. Kinder sollen sich langweilen.
Spielende Kinder sind ja o.k. Aber Erwachsene wirken beim Spielen oft lächerlich.
Manches andere, was Erwachsene machen, ist auch lächerlich. «Pokémon Go» oder diese Clowns, die hinter Strassenecken hervorspringen und Leute erschrecken.
Zugegeben, das ist seltsam. Welche Spiele sollten Erwachsene spielen?
Alle Spiele, die Menschen zusammenführen, sie der alltäglichen Welt der Sorge entreissen und erlauben, Gefühle und Emotionen zu zeigen, die im Alltag oft verschüttet sind. Ein Spiel sollte Regeln haben, aber auch genügend Freiraum lassen. Die Schauspielerei etwa. Brettspiele, wie Schach, Backgammon, «Eile mit Weile». Überall auf der Welt haben Menschen Brettspiele erfunden, um miteinander ins Spiel zu kommen. Auch Kartenspiele sind gut geeignet. Und Geschicklichkeitsspiele, dazu gehören Fussball, Basketball oder Golf. Verzeihen Sie, wenn ich nicht alle Spiele aufzählen kann.
Angenommen, ich spiele mit meinem Mann am Abend «Mensch ärgere dich nicht», statt Fernsehen zu schauen. Weshalb ist das gut für mein Gehirn?
Die meiste Zeit fokussieren wir unser Gehirn auf etwas Bestimmtes, damit man es auch gut macht. Dieser Zustand heisst fokussierte Aufmerksamkeit. Alles, was Sie mit dem Gehirn lenken und steuern, ist auf die Bearbeitung dieses einen Problems gerichtet.
Zum Beispiel?
Ihre Arbeit erledigen. Einen Brief schreiben. Telefonieren. Das führt dazu, dass im Hirn nur die Netzwerke aktiviert sind für das, was Sie gerade vorhaben. Wie bei einem Apotheker, der nur eine Schublade offen hat. Sie können nicht das ganze Spektrum an Wissen und Können, was Sie in Ihrem Hirn in Form von Netzwerken verankert haben, aktivieren.
Was ändert sich mit dem Spiel?
Durch das Spiel können sich im Gehirn möglichst viele Netzwerke miteinander verbinden, die sonst, im Zustand der fokussierten Aufmerksamkeit, nie miteinander verknüpft sind. Das Spiel öffnet quasi hundert Schubladen.
Macht uns das Spielen denn auch intelligenter?
Wir kommen auf ganz neuartige Ideen und Lösungen. Wir bekommen mehr Lebensfreude, spüren uns wieder selbst, bleiben kreativ. Denken Sie an bedeutende Forscher wie Charles Darwin, Albert Einstein oder Conrad Röntgen. Sie hatten ihre Erkenntnisse nicht dann, wenn sie sich angestrengt haben.
Sondern?
Die zündende Idee kam, wenn sie ihr Hirn spielerisch offen gehalten haben, unter der Dusche, beim Spazieren, auf keinen Fall kurz vor der Deadline. Der Zustand, den man braucht, um kreative Lösungen zu finden, ist jener, in dem möglichst viele Netzwerke miteinander verbunden sind.
Bei den meisten Spielen geht es ums Gewinnen. Widerspricht das nicht dem Sinn des Spiels?
Nein, denn Gewinnenwollen ist per se nichts Schlechtes. Das Fussballspiel etwa ist ein klassisches Wettkampfspiel. Selbst in unserem heute verkommerzialisierten Fussball sind Elemente des wahren Spiels vorhanden. Doch nicht nur das. Es ist auch Schauspiel, Glücksspiel, Geschicklichkeitsspiel. Man denke nur an Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo, die Bälle jonglieren und anschneiden können. Mal entscheiden Millimeter, ob der Ball am Pfosten landet oder nicht. Und wenn einer gefoult wird, entschuldigt man sich und hilft beim Aufstehen.
Der deutsche Dichter Friedrich Schiller hatte also recht, als er sagte: «Spielen soll der Mensch.»
Und Schiller sagte es nicht nur, er spielte auch selber gerne, mit Vorliebe Karten. Aber auch «Blinde Kuh», im Garten seiner zukünftigen Gattin Charlotte und deren Schwester. Bereits die alten Griechen wussten um die Bedeutung des Spiels. Sie waren Meister im Wettkämpfe- und Spiele-Veranstalten. Platon war der erste Denker, der sagte: «Der Mensch ist gut damit beraten, das Leben spielend zu verbringen.»
Und heute gibt es in der Schweiz den «Samschtig-Jass».
Das ist grossartig. Menschen begegnen sich bei solchen Anlässen, und das schweisst die Gemeinschaft zusammen. Das ist doch das Schönste, was es geben kann in einer Zeit, in der Menschen nur noch aneinander vorbeigehen.
Es gibt so viele Themen, mit denen Sie sich schon beschäftigt haben: Schule, Erziehung, Liebe, Spiel. Was ist Ihre Motivation für all das?
Das glaubt mir eh keiner, was ich jetzt sage. Aber ich mache das alles nicht, um berühmt zu werden. Ich brauche den Ruhm und das Scheinwerferlicht nicht. Das ist mir eher lästig.
Was treibt Sie dann an? Wollen Sie die Welt verbessern?
Wenn nächstes Wochenende nur zehn Eltern alles liegen lassen und mit ihren Kindern in den Wald gehen, hat sich das Gespräch mit Ihnen schon gelohnt.
Eben erschienen: Gerald Hüther und Christoph Quarch, «Rettet das Spiel! Weil Leben mehr als Funktionieren ist», Fotos: Heiko Meyer, Xavier Gehrig/Keystone, Chris Clor/Getty Images, Ulf Börjesson/Getty Images Hanser Verlag, 224 Seiten, 27.90 Franken