Fünf Jahre im Wachkoma, doch...
Jetzt ist Carola Thimm zurück im Leben!

Nach fünf Jahren erwachte Carola Thimm aus dem Wachkoma. Ein medizinisches Wunder – und die Geschichte einer Frau, von der wir manches lernen können.
Publiziert: 02.05.2016 um 15:03 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 17:55 Uhr
Heute sprudelt Carola Thimm vor Lebensfreude.
Foto: Nele Martensen/laif
Carmen Schirm-Gasser

Es ist das Jahr 2004. Carola Thimm, damals 36-jährig, arbeitet im Sozialministerium in Kiel (D), ist glücklich verheiratet und im fünften Monat schwanger. Endlich. Fünf Jahre musste sie darauf warten. Es ist ein sonniger Pfingstmontag, sie nimmt den Wanderstock und geht walken. Unterwegs sackt sie zusammen. Sie liegt bewusstlos am Boden, wohl eine halbe Stunde lang, bis ein Wanderer sie findet und die Ambulanz ruft. Sie wacht im Krankenhaus kurz auf. Die Ärzte entdecken in ihrem Hirn ein Aneurysma – ein erweitertes Blutgefäss ist geplatzt. Irgendwann fällt sie ins Wachkoma, ihr Leben hängt am seidenen Faden. Der Anfang einer einzigartigen Leidens- und Lebensgeschichte.

Heute ist Carole Thimm 48. Sie erzählt uns diese Geschichte in einer Drei-Zimmer-Wohnung, irgendwo in der deutschen Provinz: mit tiefer, freundlicher Stimme und im Stakkato-Tempo. Die Worte sprudeln nur so aus ihr heraus, als wolle sie die lange Zeit nachholen, die ihr das Schicksal gestohlen hat. Nach dem Vorfall lag sie fünf Jahre im Wachkoma. Dann erwachte sie. Eine medizinische Sensation – die Nachricht machte Schlagzeilen. Nun sieht sie sich berufen, ihre Story der Welt mitzuteilen. Anderen damit zu helfen, etwa Angehörigen von Komapatienten. Die sind dafür dankbar, wie viele Briefe in ihren Unterlagen zeigen. Mittlerweile ist gar ein Buch über sie erschienen. Und sie hält Vorträge, vor Hunderten von Personen.

Sie liegt da mit offenen Augen – regungslos, ohne Reaktion

Da liegt sie also im Krankenhaus auf ihrem Bett, mit offenen Augen, regungslos, ohne Reaktion auf das, was um sie herum passiert. Wachkoma. Sie wird künstlich ernährt. Im siebten Monat, viel zu früh, setzen die Wehen ein. Die Ärzte holen das Baby mit einem Kaiserschnitt, die Frau kann nicht pressen. Die Geburt, so scheint es, bekommt Carola Thimm nicht mit. Auch nicht, als ihr die Ärzte Töchterchen Marie auf die Brust legen. Ihre Liebsten schieben Carola am Begräbnis ihres Vaters ans Grab. Wieder keine Reaktion, keine Regung.

Carola Thimm lag im Wachkoma, als Töchterchen Marie per Kaiserschnitt auf die Welt kam.
Foto: Privat

Drei Jahre später geben die Ärzte die Frau auf, nur Mutter Brita glaubt an ein Wunder, besucht ihre Tochter jeden Tag, liest ihr vor, füttert sie mit ihren Lieblingsgerichten, Glacé und Kuchen. Dann wird Carola Thimm in ein Altersheim verlegt – um dort in Würde sterben zu können, wie die Ärzte prophezeien. Doch das Leben hat andere Pläne. Einer aufmerksamen Pflegerin fällt auf, wie viele Tabletten Carola Thimm täglich verabreicht werden: 14. Zu hohe Dosen, glaubt die Pflegerin und informiert ihren Chef. Dieser greift ein – und kurz danach passiert das herbeigesehnte Wunder: Carola Thimm wacht auf, formt mit ihren Fingern ein «O», was in der Taucher-Sprache heisst: o. k. Vor dem Unfall war sie eine leidenschaftliche Taucherin.

Weshalb sie erwachte, kann niemand sagen. Auch nicht, ob es mit der Neu-Dosierung der Medikamente zusammenhängt. Das Wissen der Medizin um Wachkoma-Patienten ist noch gering. «Man darf die Patienten aber nicht aufgeben», sagt sie, sie bekämen sehr wohl die Dinge um sich herum mit: «Ich habe trotz Koma alles realisiert.» Sie kann sich an die Geburt von Marie erinnern, an die Pfleger, die sich derart freundlich um sie kümmerten. «Mir war bewusst, dass mein Leben anders war – aber ich realisierte nicht, dass ich im Koma lag.» Negatives hingegen ist weg, das Gedächtnis scheint es herausgefiltert zu haben. «Das Begräbnis meines Vaters? Hier klafft eine Erinnerungslücke.»

Die Frau sitzt in ihrer Wohnung und erzählt, erzählt, erzählt. Das Leben hatte für sie neu begonnen. Wenn auch im Entwicklungsstadium eines Kindes. In unzähligen Therapiesitzungen muss sie alles neu erlernen: kauen, Laute formen, dann Wörter, irgendwann ganze Sätze. Sitzen, stehen, gehen, irgendwann rennen. Die Erinnerungen kehren nur langsam zurück. Sie weiss nicht, wer das kleine Mädchen ist, das sie im Heim besucht und umarmt. Es ist Marie, ihre Tochter. Als man sie darüber aufklärt, weint sie.

Das Familienglück war nur von kurzer Dauer

Nun wird alles gut, ist sie überzeugt. Sie will das Altersheim verlassen, in ihr Haus ziehen, nach all den Jahren eine Familie sein, mit ihrem Mann und der kleinen Marie. Ja, Marie! Sie hatte sich derart lange nach ihrer Mutter gesehnt. Sie soll aufwachen, sie vom Kindergarten abholen, sie streicheln und mit ihr spielen, wünschte sich die Fünfjährige. Die Wünsche scheinen greifbar nahe. Auch wenn die Mutter erst langsam in ihre Rolle findet, sie ihrer Tochter häufig zu viel durchgehen lässt, kaum Grenzen setzt – sie ist präsent, liebt das Mädchen, macht für sie alles, was sie damals machen kann.

Die dunklen, drohenden Wolken sieht sie nicht. Ihr Mann, ein Marine-Offizier, besucht sie immer weniger im Heim. Er wirkt distanziert, abwesend. Eine natürliche Distanz, nach all den Jahren, denkt sie und schreibt ihm Liebesbriefe. Er teilt ihr mit, er müsse künftig an den Sonntagen arbeiten. Und irgendwann, auf einem Spaziergang, sieht sie ein unbekanntes Auto vor dem gemeinsamen Haus parkiert. Sie realisiert: Ihr Mann hat eine Freundin. «Ich sprach ihn darauf an, erst dann erzählte er, dass meine Genesung für ihn einfach zu lange gedauert und er sich in eine andere verliebt hatte. Für mich brach eine Welt zusammen.»

Doch es kommt noch schlimmer. Eines Tages erhält sie einen Brief – eingeschrieben. Ihr Mann zieht vor Gericht. «Er hatte die Erziehungsberechtigung für Marie zu hundert Prozent», sagt sie und richtet sich auf ihrem Stuhl sichtbar auf: «Mit der Klage wollte er verhindern, dass ich das geteilte Sorgerecht bekomme. Er traute mir nicht zu, dass ich ein Kind erziehen kann.» Ein Gericht sollte nun darüber entscheiden.

Sie hadert: Sollte sie nach dem Mann nun auch ihre Tochter verlieren? Die Richter entscheiden zu ihren Gunsten. Das Sorgerecht wird geteilt. Marie lebt beim Vater, kommt jedoch jedes zweite Wochenende auf Besuch. Das gemeinsame Haus ist längst verkauft.

Das Glück ist in ihr Leben zurückgekehrt

Eine Redepause – Zeit für eine Frage. Wie verkraftet man derart viele Rückschläge? «Natürlich könnte ich darüber jammern, weshalb ich fünf Jahre meines Lebens verpasst habe, weshalb es ausgerechnet mich getroffen hat. Ich aber sehe es so: Der liebe Gott hat mir mehr als einmal das Leben geschenkt. Das ist doch grosszügig von ihm.»

Vor der Hirnblutung war Carola Thimm eine leidenschaftliche Taucherin.
Foto: Privat

Heute lebt Carola Thimm in ihrer eigenen Wohnung. Sie bezieht eine kleine Beamten-Rente. Ursprünglich wollte sie wieder arbeiten, zurück in ihren Job gehen. Dann musste sie einsehen, zu viel ihres Wissen war weg. Zuerst war sie schockiert, heute lacht sie drüber: «Gott sei Dank hatte ich vor dem Unfall einen IQ von 140, wie mein Mann immer witzelte. So ist meine Intelligenz wohl nicht ganz verloren gegangen.»

In der Zwischenzeit hat sie sich körperlich gut erholt, auch die Liebe ist in ihr Leben zurückgekehrt. Sie hat einen Freund, einen IT-Spezialisten. «Er ist 6o, also älter als ich – doch mit ihm bin ich viel besser dran», sagt sie. Carola Thimm steht auf. Es ist Zeit für die Caritas. Dort arbeitet sie als freiwillige Helferin. «Heute ist ein schöner Tag», sagt sie, wirft ihren Lockenkopf in den Nacken und strahlt. «Nutzen Sie ihn. Sie leben nur einmal.»

«Mein Leben ohne mich. Wie ich fünf Jahre im Koma erlebte», Carola Thimm, Patmos.

 

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