Sind Sie auch sportsüchtig?
Kaum sind die Kinder in der Schule, macht sich Anja auf den Weg ins Fitness-Studio. Dort stemmt sie 5 Mal die Woche Gewichte, anschliessend geht sie laufen. Anfangs waren es 5 Kilometer pro Woche. Inzwischen sind es 50 Kilometer. Auf die Frage, warum sie so viel Sport treibe, antwortet sie: «Um Fett abzubauen, und weil es mir guttut.»
Dass sie überhaupt gar kein Fett mehr auf den Hüften hat, nimmt sie nicht wahr. Sie selbst findet sich zu dick. Essen kann sie schon lange nicht mehr ohne schlechtes Gewissen. Jeder Bissen muss wegtrainiert werden. «Das ist nicht normal, ich weiss», sagt sie, «aber ich kann nicht anders.»
Über 20'000 Süchtige in der Schweiz
Anja ist kein Einzelfall. Immer mehr Menschen leiden unter dem Zwang, Sport machen zu müssen. In der Schweiz sind es gemäss Schätzungen mehr als 20'000. Doch die eigentliche Anzahl Betroffener ist um ein Vielfaches grösser. Die Angelegenheit hat viele Facetten. Man muss sich nicht täglich in einen Rauschzustand laufen, um bereits als sportsüchtig oder suchtgefährdet zu gelten. Das Problem beginnt viel früher und geht oft einher mit einer Ess-Störung oder einer verzerrten Wahrnehmung des eigenen Körpers.
Auch Barbara ist betroffen. Wenn sie sich morgens mal ein Gipfeli zum Kaffee gegönnt hat, fühlt sie sich nicht mehr wohl in ihrer Haut, bis die Kalorien in der Mittagspause beim Spinning wieder weggestrampelt sind. «Das ist pathologisch», sagt die Zürcher Psychologin Antonia Blum. «Wer den Sport nutzt, um etwas zu verhindern oder zu erreichen, anstatt ihn einfach nur auszuüben, der braucht ihn schon.» Besser wäre: sich aus Spass am Spiel oder Freude an der Bewegung körperlich zu betätigen. Aber das gelingt offensichtlich den wenigsten.
Sixpack und Knackpo durch knallhartes Training
Im Thalwiler Personal-Training-Studio «Pleasure and Pain» betreiben mehr als 95 Prozent der Klientel Schadensbegrenzung. «Die Leute wollen gut aussehen, ohne auf ihren gewohnten Lebensstil verzichten zu müssen. Das ist der Grund, warum sie zu uns kommen», sagt Inhaber Misho Mohamed. Ganz nach dem Motto: Lieber Schweissperlen auf der Stirn als nichts auf dem Teller. Manche zahlen dafür bis zu 200 Franken pro Stunde.
Der Körper ist zum Statussymbol unserer Luxus-Wohlstandsgesellschaft geworden und der Spiegel inzwischen unser bester Freund – dicht gefolgt von der Selfie-Plattform Instagram. «Dort werden die Standards gesetzt», sagt auch Mohamed. «Es herrscht ein brutaler Körperkult, und der Druck wächst jedes Jahr mehr.»
Kendall Jenner oder Gigi Hadid geben den Takt vor
Längst reicht es nicht mehr aus, «nur» schlank zu sein. Mindestens so wichtig ist, dass der Körper gut definiert ist. Die als Instamodels bekannt gewordenen Kendall Jenner oder Gigi Hadid gelten hierfür derzeit als Mass aller Dinge. Aber auch bei denen sind Sixpack und Knackpo nicht angeboren: Sie unterziehen sich an sechs Tagen pro Woche einem knallharten Fitnessprogramm und erwecken damit die Hoffnung, wir alle könnten uns in Grösse 32 reinschwitzen, wenn wir uns nur lange und intensiv genug abrackern.
Befeuert wird diese Wunschvorstellung noch von einer stetig wachsenden Anzahl an Fitness-Bloggern und Online-Trainern wie etwa Hollywood-Liebling Tracy Anderson (A revolutionary fitness method) oder den total gehypten Australierinnen Kayla Itsines (Sweat with Kayla) und Amanda Bisk (FreshBodyFitMind), die im Internet mit fotografisch dokumentierten Metamorphosen unzähliger Probanden millionenfach Apps und Programme verkaufen, welche alle das Gleiche versprechen: einen Traumbody!
Angst vor Kontrollverlust
Warum dieser für uns so erstrebenswert ist, ist für Psychologin Blum klar: «Vor allem unsichere Menschen fühlen sich in unserer von optischen Werten dominierten Welt umso wohler, je attraktiver sie aussehen.» Man trainiert sich einen Schutzpanzer an, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Oft steckt dahinter eine Angst vor Kontrollverlust. «Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass man nicht mehr Herr seiner Handlungen ist», sagt Psychologin Blum, «viele Menschen brauchen deshalb Regeln in Form von sportlichen Aktivitäten und den damit verbundenen regelmässigen Tagesabläufen.» Diese verleihen ihnen vermeintliche Sicherheit, äussern sich aber, sobald Verletzungen auftauchen und das gewohnte Programm ausfällt, in Gereiztheit oder gar in Depressionen.
Obwohl die «Sportsucht» in der Schweiz als medizinische Diagnose noch nicht anerkannt ist, hilft dagegen meist nur eine professionelle Therapie. Einen Ausweg aus dem Teufelskreis findet laut Blum nur, wer lernt, seine eigenen Bedürfnisse zu erfassen und die richtige Balance zwischen Lust und Verzicht zu finden. Aber das ist leichter gesagt als getan. Vor allem junge Menschen stehen zusätzlich noch unter Gruppenzwang. Die regelmässigen Gym-Besuche nach Schul- oder Arbeitsschluss sind zu Social Events geworden. Anstatt zur Happy Hour trifft man sich unter dröhnenden Beats zum gemeinsamen Workout. Er habe noch nie so viele Jugendliche an den Geräten gesehen wie in den letzten Jahren, sagt auch Fitnesstrainer Robin Smith.
Muskeln als Symbol für Männlichkeit
Vor allem Jungs stemmen immer häufiger Gewichte. Für sie gelten Muskeln als Symbol für Männlichkeit, und wenn sie nicht schnell genug wachsen, dann wird eben nachgeholfen – im besten Fall mit sogenannten «Weight Gainern», Shakes aus Kohlenhydrat-Proteinmischungen, die einen schnellen Muskelzuwachs versprechen. Immer öfter jedoch auch mit Designerdrogen und anabolen Steroiden, im Profisport bekannt als Doping. Diese kann man sich in der Grauzone zwischen legal und illegal problemlos aus dem Internet besorgen. Der Handel mit sogenannten Nahrungsergänzungsmitteln zur schnellen Leistungssteigerung und Fettverbrennung ist daher zum florierenden Geschäftszweig geworden. «Niemand hat Zeit und Geduld», sagt der ehemalige Profi-Kampfsportler Mohamed: «Alle wollen schnelle Resultate.»
Dass dies fatale Konsequenzen haben kann, wird einfach verdrängt. Schliesslich bedankt sich der Organismus für den bizarren Körperkult und die damit verbundene Besessenheit nach jedem Training mit einem Schwall von Glückshormonen, von denen immer nur so viel ausgeschüttet werden, dass man beim nächsten Training noch mehr leisten muss, um auf die gewohnte Dosis zu kommen. Auch das soziale Umfeld spendet Applaus statt Sensibilität. Sport gilt schliesslich als gesund und hat deshalb eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz. Je extremer die Leistung, desto grösser ist die Anerkennung.
Die Folgen gehen oft zulasten der Gesundheit, äussern sich aber fast immer erst zeitversetzt. Gemäss Kai-Uwe Steuber, Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates an der Orthopädie Zürisee, ist der wichtigste Faktor zur Prävention die Balance zwischen Training, Erholung und Ernährung. Schon das Ignorieren eines einzelnen Aspekts oder allfälliger körperlicher Warnsignale könne zu tödlichen kardiovaskulären Erkrankungen oder Verschleisserscheinungen und degenerativen Alterungsprozessen im Bewegungsapparat führen: «Vernunft und Einsicht spielen hierbei eine grosse Rolle.» Zwei Schlagwörter, die bei fanatischen Fitnesssportlern leider häufig achtlos über Bord geworfen werden. Zusammen mit den ungeliebten Fettpölsterchen und einem gesunden Körpergefühl, das einst noch in der Lage war, sowohl beim Essen als auch beim Sport statt Zwang Lust und Genuss zu empfinden.
Müssen auch Sie Ihr sportliches Verhalten überdenken? Bei folgenden Anzeichen sollten Ihre Warnsignale rot aufleuchten:
- Sie treiben mehr als eine Stunde Sport pro Tag und tun dies nicht aus Freude an der Tätigkeit oder weil das Auspowern eine willkommene Abwechslung zu Ihrem beruflichen Alltag darstellt. Für Sie ist Sport ein fester Programmpunkt ohne Wenn und Aber.
- Wenn Sie 1 bis 2 Tage keinen Sport treiben, werden Sie schnell unruhig, gereizt oder fühlen sich nicht wohl in Ihrer Haut.
- Sie trainieren auch beinahe täglich, wenn Sie verletzt oder sogar krank sind.
- Sie brauchen das «gute Gefühl» nach dem Sport, um überhaupt ohne schlechtes Gewissen etwas essen zu können.
- Für Familie und Freunde haben Sie weniger Zeit als früher. Sie sagen Termine ab oder verschieben sie auf Kosten Ihres Umfelds, wenn Sie befürchten, Ihr Sportprogramm nicht durchziehen zu können.
Müssen auch Sie Ihr sportliches Verhalten überdenken? Bei folgenden Anzeichen sollten Ihre Warnsignale rot aufleuchten:
- Sie treiben mehr als eine Stunde Sport pro Tag und tun dies nicht aus Freude an der Tätigkeit oder weil das Auspowern eine willkommene Abwechslung zu Ihrem beruflichen Alltag darstellt. Für Sie ist Sport ein fester Programmpunkt ohne Wenn und Aber.
- Wenn Sie 1 bis 2 Tage keinen Sport treiben, werden Sie schnell unruhig, gereizt oder fühlen sich nicht wohl in Ihrer Haut.
- Sie trainieren auch beinahe täglich, wenn Sie verletzt oder sogar krank sind.
- Sie brauchen das «gute Gefühl» nach dem Sport, um überhaupt ohne schlechtes Gewissen etwas essen zu können.
- Für Familie und Freunde haben Sie weniger Zeit als früher. Sie sagen Termine ab oder verschieben sie auf Kosten Ihres Umfelds, wenn Sie befürchten, Ihr Sportprogramm nicht durchziehen zu können.
Life: Herr Dr. Wegmann, wo zieht man die Grenze zwischen ehrgeizigem Körperkult und einer Fixierung auf Sport, die krankhafte Züge hat?
Dr. Wegmann: Sport begeistert, fasziniert und gilt zugleich als gesund. Das Suchen nach einem Kick (Runner’s High) regt das limbische System an und schüttet Botenstoffe und Hormone aus. Das Glücks-gefühl, das dadurch entsteht, kann in der Folge erst wieder hervorgerufen werden, wenn immer grössere Herausforderungen bewältigt werden. Als krankhaft oder Sucht wird dann die zwanghafte Ausübung von Sport bezeichnet, die das Denken und das Verhalten dominiert. Man kann ohne den Sport nicht mehr richtig funktionieren und hat Angst vor regelrechten Entzugssymptomen.
Wer ist stärker betroffen von Sportsucht, Frauen oder Männer?
Gemäss Studien aus Ausdauersportarten tendenziell eher Frauen. Insbesondere, wenn man von einer sekundären Sportsucht spricht, also einer extrinsisch (von aussen) motivierten. Das Erreichen einer «Idealfigur» wird angestrebt, Sport wird dann Mittel zum Zweck.
Wo erkennen Sie Parallelen zu anderen Abhängigkeiten?
Natürlich gibt es Parallelen zu Substanzabhängigkeiten wie Nikotin, Alkohol oder Drogen. An erster Stelle steht der Zwang, dies zu tun, um die negativen Folgen des Entzugs zu vermeiden. Aber auch das Suchen neuer Grenzen, um kein Toleranzniveau zu erreichen, sind Ähnlichkeiten zu anderen Suchterkrankungen.
Weshalb ist Sportsucht hierzulande weitgehend ein Tabuthema?
Das ist auf das positive Image des Sports und die damit erlebten positiven Emotionen zurückzuführen.
Inwiefern steht für Sie ein gesellschaftliches Rollenverständnis in direktem Zusammenhang? Zum Beispiel der persönliche Auftritt auf sozialen Medien wie Facebook oder Instagram?
Die sozialen Medien bilden die Plattform für Anerkennung und Selbstdarstellung.
Wie erklären Sie einem Patienten, dass er ein Suchtverhalten zeigt?
Bei Verdacht auf ein Suchtverhalten ist das Bewusstmachen der Situation wichtig und erfordert in Einzelfällen eine interdisziplinäre Betreuung von Medizinern, Psychologen, Therapeuten und anderen Fachpersonen – genauso wie bei anderen Suchtprogrammen.
Wie sollen sich Angehörige verhalten, wenn sie bei einer Person in ihrem Umfeld Symptome erkennen?
Es gibt kein Allgemeinrezept. Wenn Angehörige aber Anzeichen erkennen, sollte der Betroffene auf jeden Fall auf das Thema angesprochen werden.
Welche Anlaufstelle(n) empfehlen Sie?
Sportsuchtprogramme im Rahmen der Suchtprävention (vgl. Drogen) existieren in der Schweiz noch nicht. Ansprech-partner sind deshalb Sportmediziner, aber auch Hausärzte, Psychologen oder Trainingswissenschaftler. Diese können «Suchtkranken» dazu verhelfen, wieder ein realitätsnahes Bild der sportlichen Aktivität zu erlangen. Und dem Sportler gleichzeitig zu einem massvollen Training verhelfen. Interview: Sandro Galfetti
Life: Herr Dr. Wegmann, wo zieht man die Grenze zwischen ehrgeizigem Körperkult und einer Fixierung auf Sport, die krankhafte Züge hat?
Dr. Wegmann: Sport begeistert, fasziniert und gilt zugleich als gesund. Das Suchen nach einem Kick (Runner’s High) regt das limbische System an und schüttet Botenstoffe und Hormone aus. Das Glücks-gefühl, das dadurch entsteht, kann in der Folge erst wieder hervorgerufen werden, wenn immer grössere Herausforderungen bewältigt werden. Als krankhaft oder Sucht wird dann die zwanghafte Ausübung von Sport bezeichnet, die das Denken und das Verhalten dominiert. Man kann ohne den Sport nicht mehr richtig funktionieren und hat Angst vor regelrechten Entzugssymptomen.
Wer ist stärker betroffen von Sportsucht, Frauen oder Männer?
Gemäss Studien aus Ausdauersportarten tendenziell eher Frauen. Insbesondere, wenn man von einer sekundären Sportsucht spricht, also einer extrinsisch (von aussen) motivierten. Das Erreichen einer «Idealfigur» wird angestrebt, Sport wird dann Mittel zum Zweck.
Wo erkennen Sie Parallelen zu anderen Abhängigkeiten?
Natürlich gibt es Parallelen zu Substanzabhängigkeiten wie Nikotin, Alkohol oder Drogen. An erster Stelle steht der Zwang, dies zu tun, um die negativen Folgen des Entzugs zu vermeiden. Aber auch das Suchen neuer Grenzen, um kein Toleranzniveau zu erreichen, sind Ähnlichkeiten zu anderen Suchterkrankungen.
Weshalb ist Sportsucht hierzulande weitgehend ein Tabuthema?
Das ist auf das positive Image des Sports und die damit erlebten positiven Emotionen zurückzuführen.
Inwiefern steht für Sie ein gesellschaftliches Rollenverständnis in direktem Zusammenhang? Zum Beispiel der persönliche Auftritt auf sozialen Medien wie Facebook oder Instagram?
Die sozialen Medien bilden die Plattform für Anerkennung und Selbstdarstellung.
Wie erklären Sie einem Patienten, dass er ein Suchtverhalten zeigt?
Bei Verdacht auf ein Suchtverhalten ist das Bewusstmachen der Situation wichtig und erfordert in Einzelfällen eine interdisziplinäre Betreuung von Medizinern, Psychologen, Therapeuten und anderen Fachpersonen – genauso wie bei anderen Suchtprogrammen.
Wie sollen sich Angehörige verhalten, wenn sie bei einer Person in ihrem Umfeld Symptome erkennen?
Es gibt kein Allgemeinrezept. Wenn Angehörige aber Anzeichen erkennen, sollte der Betroffene auf jeden Fall auf das Thema angesprochen werden.
Welche Anlaufstelle(n) empfehlen Sie?
Sportsuchtprogramme im Rahmen der Suchtprävention (vgl. Drogen) existieren in der Schweiz noch nicht. Ansprech-partner sind deshalb Sportmediziner, aber auch Hausärzte, Psychologen oder Trainingswissenschaftler. Diese können «Suchtkranken» dazu verhelfen, wieder ein realitätsnahes Bild der sportlichen Aktivität zu erlangen. Und dem Sportler gleichzeitig zu einem massvollen Training verhelfen. Interview: Sandro Galfetti