Darum gehts
- Giulia Enders spricht im Interview über ihr neues Buch «Organisch» und Körperwahrnehmung
- Um eine Verbindung zu den anderen Organen aufzubauen, suchte sie den Rat einer Paartherapeutin
- Enders plädiert für einen ganzheitlichen, dankbaren Blick auf den Körper
Giulia Enders, Ärztin und gefeierte Sachbuchautorin, sitzt vor ihrem Laptop in ihrem Zimmer in Frankfurt. Andere Interviews zu ihrem neuen Buch «Organisch» gibt die 35-Jährige in ihrem Garten. Die jahrelange intensive Beschäftigung mit den Organen für das Buch hat sie geprägt: «Ich bin weicher und verständnisvoller geworden, sehe mich als Komplizin meines Körpers.» Deshalb achtet sie auch jetzt, da der Rummel um ihre Person anzieht, mehr darauf, was ihr guttut.
Blick: Frau Enders, in Ihrem ersten Buch, «Darm mit Charme», war Ihre riesige Begeisterung und Faszination für dieses Organ spürbar. Genügt Ihnen heute der Darm nicht mehr?
Giulia Enders: Er ist immer noch mein Lieblingsorgan. Aber ich hatte den Eindruck, dass wir ein Gegengewicht brauchen zu dieser lauten Welt von aussen. Es braucht einen Blick nach innen. Das gute Körpergefühl geht verloren, wenn wir tagsüber nur ein Gehirn vor dem Bildschirm sind. Und: Wir sind als Körper mehr als das Äusserliche oder das, was wir zu optimieren versuchen.
Wie könnten wir stattdessen auf unseren Körper blicken?
Rein mathematisch gesehen mit Dankbarkeit und Bewunderung. Denn auch bei Menschen, die an einer chronischen Krankheit leiden, funktionieren über 90 Prozent der Prozesse immer noch wunderbar. Es lohnt sich, den Körper als Ganzes wahrzunehmen.
Sie waren sozusagen in einer monogamen Beziehung mit dem Darm, dann öffneten Sie die Beziehung …
Das war schwierig, und ich hatte auch ein schlechtes Gewissen! Ich habe eine befreundete Paartherapeutin um Rat gefragt, denn es fiel mir schwer, eine Verbindung herzustellen zu Organen, die mir fremd waren.
Was war ihr Rat?
Ich solle den Organen Menschen zuordnen, zu denen ich schon eine Beziehung habe. So lernte ich die Familie vom Darm kennen.
Wie muss man sich das vorstellen?
Das Immunsystem steht für Sicherheit. Da musste ich sofort an Bill, den besten Freund meiner Oma, denken. Er war sehr gastfreundlich und hat bei sich einen Ort geschaffen, an dem sich sehr unterschiedliche Menschen sicher gefühlt haben. Nicht durch eine Hecke und ein grosses Schloss, sondern durch eine spezielle Art von Neugier und Akzeptanz.
Und das trifft auch auf das Immunsystem zu?
Genau, es geht ihm nicht nur ums Abwehren, sondern auch um Neugier auf Probleme und Kooperation mit guten Bakterien. So fiel es mir leicht, den Zugang zu finden. Und ich war teilweise sehr berührt von dem, was ich lernte. Zum Beispiel, dass das einzige Ziel des Immunsystems es ist, uns zu beschützen und auf uns aufzupassen.
Im Buch kritisieren Sie, dass wir mit technischen, kriegerischen Wörtern über unsere Körper sprechen.
Ja, es schadet uns, wenn wir nur verpackt in die Worthülsen aus BWL, Technik, Politik oder Kriegsführung auf uns selbst schauen.
Ein Beispiel?
Gerade die Sprache zum Immunsystem ist sehr militärisch: Wir sprechen von «abwehren, Killerzellen, Barrieren, den Erreger zerstören» und so weiter. Wichtig zu wissen ist: Diese Begriffe stammen aus der Forschung, die parallel zum Ersten und zum Zweiten Weltkrieg betrieben wurde. Das sind zeitgleiche Begriffsfindungen. Das war der Blick auf die Welt.
Wie wäre es besser?
Bei einer Autoimmunkrankheit macht es doch einen Unterschied, ob die Patientin verinnerlicht hat, dass ihr eigener Körper sie angreift. Oder ob sie versteht, dass ihre Immunzellen sie beschützen wollen und das Immunsystem leider zu weit geht, weil es übervorsichtig ist. Als ich das einer Patientin mit einer chronischen Darmerkrankung erklärte, musste sie weinen, weil sie verstand, dass ihr Körper ihr helfen will. Wenn man jahrelang Medikamente nehmen muss, macht es emotional einen Unterschied, ob wir sie nehmen, um das Immunsystem zu unterdrücken, oder um es milder zu stimmen und es zu beruhigen, weil es uns zu stark schützen will.
Wie hat sich Ihr eigener Blick auf Ihren Körper verändert?
Ich bin softer geworden, dadurch aber gleichzeitig stärker. Früher hatte ich ein Leistungsdenken, zwang mich, beim Schreiben sitzen zu bleiben, bis ich etwas aufs Blatt gekriegt hatte, was mich zufriedenstellte. Heute bin ich freundlicher zu mir selbst, versuche, besser mit mir zu arbeiten, einen Spaziergang zu machen, zu duschen, mit einer Freundin zu reden – so komme ich häufig viel besser voran.
Und in körperlicher Hinsicht?
Ich mache tatsächlich lieber Sport als früher. Ich fand es früher immer albern, im Fitnessstudio so zu tun, als müsste ich irgendwohin rennen. Heute habe ich das Gefühl: Ich und die Muskeln unternehmen etwas Witziges.