Tragödie im Amazonas
Atxu Marima lebte bei einem geheimen Stamm – dann musste er fliehen

Atxu Marima, ein ehemaliges Mitglied des isolierten Hi-Merima-Volks im Amazonas, berichtet über seine Flucht und sein tragisches Schicksal, nie mehr zu seinem Stamm zurückkehren zu können.
Publiziert: 17.10.2025 um 10:16 Uhr
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Aktualisiert: 17.10.2025 um 10:36 Uhr
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Seine Kindheit verbrachte Atxu Marima beim Volk der Hi-Merima im Amazonas.
Foto: AFP

Darum gehts

  • Atxu Marima floh als Kind aus isoliertem Amazonas-Stamm nach Jaguarangriff
  • Marima arbeitet für Indigenenbehörde und schützt sein ehemaliges Volk
  • 114 unkontaktierte indigene Gemeinschaften in Brasilien, mehr als anderswo
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.

Es ist kaum vorstellbar, doch es gibt immer noch Völker, die völlig abseits der modernen Gesellschaft leben. Und zwar so wie ihre Vorfahren auch schon – und das seit Jahrhunderten. Abgeschottet, versteckt im Dschungel Brasiliens. Genau so wuchs auch Atxu Marima auf. Seine Kindheit war das Paradies auf Erden.

Er sang den Bäumen Lieder, damit sie Früchte trugen, tanzte mit den Nachbarn und rannte mit den Geschwistern durch den Regenwald. Marima stammt aus dem Volk der Hi-Merima im Amazonas – einer von vielen indigenen Gruppen in Brasilien, die keinen Kontakt zur Aussenwelt haben. Doch ein Jaguarangriff zwang Marima und seine Familie zur Flucht. Zurück kann er nicht – er würde sein Volk gefährden.

«Alle wurden krank und starben»

Marima war sieben oder acht Jahre alt, als ein Jaguar seinen Vater anfiel, und schwer am Kopf verletzte. Der Vater begann, zu halluzinieren, dass seine Kinder Beute seien – Tapire und Schweine, die er mit Pfeilen jagen müsse. Deshalb floh die Mutter mit Marima und seinen Geschwistern. Den Vater liessen sie sterbend in seiner Hängematte zurück, unter der sie ihm ein Grab geschaufelt hatten. Marima sah ihn nie wieder.

«Meine Mutter beschloss, Kontakt zur ‹zivilisierten› Welt aufzunehmen», erzählt Marima bei einem Besuch in Paris der Nachrichtenagentur AFP. Dadurch war die Familie plötzlich Viren und Bakterien ausgesetzt, die sie von ihrem nomadischen Leben zwischen den Flüssen Purus und Juruá nicht kannten und gegen die sie deshalb keine Abwehrkräfte hatten.


«Alle wurden krank und starben», sagt Marima und erinnert sich daran, wie seine Mutter und mehrere Brüder einer Krankheit zum Opfer fielen, die er als Grippe bezeichnet. Marima und vier Geschwister überlebten als Einzige und wurden in fremden Familien untergebracht.

«Ich bin hier, um die Geschichte meines Volkes zu erzählen»

Seine Adoptivfamilie gab ihm den Namen Romerito und zwang ihn, unter «sklavenähnlichen Bedingungen» zu arbeiten. Als Jugendlicher lief er weg. Vermutlich sei keiner seiner Brüder und keine seiner Schwestern mehr am Leben, glaubt Marima.

Heute ist er etwa 40 Jahre alt und setzt sich dafür ein, dass Brasiliens isolierte Gemeinschaften in Ruhe gelassen werden. Marima arbeitet für die Nationale Behörde für Indigene (Funai) und überwacht das Gebiet der Hi-Merima, das 2005 von der Regierung gesetzlich anerkannt wurde. «Ich bin hier, um die Geschichte meines Volkes zu erzählen», sagt er.

Brasilien verbot die Kontaktaufnahme mit indigenen Völkern

114 indigene Gemeinschaften gelten in Brasilien offiziell als sogenannte unkontaktierte Völker – mehr als in jedem anderen Land. Jahrzehntelang förderte Brasilien den Kontakt zu diesen Gemeinschaften. Nachdem die Behörden jedoch die verheerenden Folgen der Kontaktaufnahme erkannt hatten, vollzogen sie 1987 eine Kehrtwende.

Brasilien verbot den Kontakt zu indigenen Völkern – es sei denn, sie geht von den Gemeinschaften selbst aus. «Zuvor war es normal, dass die Hälfte der Bevölkerung unkontaktierter Völker innerhalb des ersten Jahres nach dem Kontakt starb», meist an Krankheiten, sagt die Forscherin Priscilla Schwarzenholz von der Organisation Survival International.

«Den Leuten fehlt der gesunde Menschenverstand»

Indigene fürchteten den Kontakt zur Aussenwelt auch, weil sie Angst vor deren Waffen hätten, sagt Marima. Nach Jahrzehnten ausserhalb des Amazonas hält er sich von seinem eigenen Volk fern: «Ich würde sie mit einer Krankheit anstecken, ich bin nicht mehr der Mensch aus dem Wald.»

Mit seiner Arbeit sorgt Marima dafür, dass sich auch niemand sonst den Hi-Merima nähert. Zum Beispiel Fischer, die versuchen, illegal einzudringen und «keinen Respekt vor dem Gebiet zeigen». Auch Waldbrände und Abholzung gefährden das Überleben der Indigenen. «Den Leuten fehlt der gesunde Menschenverstand, um den Amazonas-Regenwald zu schützen», kritisiert Marima.

Trotz dieser Bedrohungen scheint die Gemeinschaft der Hi-Merima in den vergangenen 20 Jahren gewachsen zu sein, seit ihr Territorium unter Schutz steht. «Man sieht, dass es Kinder und Babys gibt, sie wachsen und sind gesund», sagt Schwarzenholz. Anhand der Spuren, die sie im Wald hinterlassen, schätzt die Forscherin das Volk auf etwa 150 Angehörige.

«Die Hi-Merima wissen nicht, dass es mich gibt», sagt Marima. Aber ihre Geschichte zu erzählen, sei sein Weg, mit seinem Volk in Verbindung zu bleiben. Vielleicht suche die Gemeinschaft eines Tages selbst Kontakt zur Aussenwelt, sagt er. «Bis dahin lasst sie in Frieden leben.»

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