Darum gehts
Am 2. Mai hatte der deutsche Verfassungsschutz die AfD als «gesichert rechtsextreme Bestrebung» eingestuft. Damit wurde die erste Stufe zu einem möglichen Verbotsverfahren gegen die grösste Oppositionspartei in Deutschland genommen.
Zunächst wurde das zugehörige Gutachten, ein Dokument mit 1108 Seiten, nicht veröffentlicht. Dies ist nun diese Woche geschehen. Die beiden Portale «Cicero» und «Nius» haben das komplette, ungeschwärzte Dokument veröffentlicht. Seither hagelt es Kritik am Verfassungsschutz, gerade auch von Fachleuten. Zum Beispiel von Geheimdienst-Experte Peter R. Neumann (50). Blick präsentiert die wichtigsten Kritikpunkte an dem Gutachten.
Unnötige Geheimhaltung
Neumann hält die AfD zwar für eine «gesichert rechtsextreme» Partei, kritisiert die Geheimniskrämerei rund um das Gutachten jedoch als «Riesenfehler» – nennt das Vorgehen des Verfassungsschutzes ein «Eigentor». Auch Reporter Felix Huesmann vom Redaktions-Netzwerk Deutschland argumentiert, dass der Verfassungsschutz das Dokument selbst hätte veröffentlichen müssen, um den Vorwurf der «Geheimjustiz» zu entkräften. Im Interview mit der «Zeit» sagte Bundeskanzler Friedrich Merz (69): «Ich bin nicht glücklich mit dem Ablauf dieses Verfahrens. Da wird von der alten Regierung ohne sachliche Prüfung ein Bericht vorgestellt, der gleichzeitig als Verschlusssache eingestuft ist.»
Vermischung von Positionen
Das Gutachten vermischt rechtspopulistische, polemische Aussagen, etwa zu Migration oder «Messerkriminalität», mit klar rechtsextremen Positionen, etwa zum völkischen Weltbild – ohne diese klar zu trennen. Neumann kritisiert, dass massgebliche Belege für den rechtsextremen Charakter der Gesamtpartei in der Flut von Informationen untergehen. Andreas Rosenfelder (50), Chefkommentator der «Welt», warnt, dass die pauschale Einordnung überspitzter Migrationskritik als verfassungsfeindlich die Meinungsfreiheit einschränken könnte.
Fehlende Belege
Es fehlt ein konkreter gesellschaftlicher Umsturzplan: Der deutsche Verfassungsrechtler Josef Franz Lindner (58) weist in verschiedenen Posts auf X darauf in, dass es für die Einstufung als «gesichert rechtsextrem» konkrete Belege dafür brauche, «dass die AfD als Gesamtpartei auf eine Beseitigung tragender Grundsätze des Grundgesetzes ziel- und zweckgerichtet hinarbeitet» – sprich den deutschen Staat zerstören wolle. Für ein Parteiverbot müsste zudem gezeigt werden, dass AfD dieses Ziel «kämpferisch-aggressiv» durchsetzen wollte. Diese Belege fehlten.
Schwammigkeit und Überlänge
Mit 1108 Seiten ist das Gutachten laut Neumann zu lang und unübersichtlich, um von Richtern, Politikern oder der Öffentlichkeit gründlich geprüft zu werden. Entscheidendes Material, wie verfassungsfeindliche Aussagen, wird nicht klar hervorgehoben.
Fehlende nachrichtendienstliche Erkenntnisse
Seit 2022 hat der Verfassungsschutz die Befugnis, nachrichtendienstliche Methoden gegen die AfD einzusetzen. Dazu gehören etwa V-Leute, die verdeckt ermitteln. Trotzdem enthält das Gutachten laut Huesmann keine solchen Erkenntnisse. Es stützt sich fast ausschliesslich auf öffentliche Quellen wie Interviews oder Social-Media-Posts.
Angriffspunkte für die AfD
Die Länge und Schwammigkeit machen das Gutachten anfällig für Angriffe der AfD. Rosenfelder betont, dass die Partei harmlose oder aus dem Kontext gerissene Passagen nutzen kann, um das Dokument zu diskreditieren. So hat Parteichefin Alice Weidel (46) die AfD am Mittwoch im Bundestag als Opfer eines «absurden Geheimgutachtens» und staatlicher Willkür dargestellt.
Internationale Missverständnisse
Die undurchsichtige Kommunikation des Verfassungsschutzes hat international zu unerwarteten Wortmeldungen geführt. Tweets von US-Aussenminister Marco Rubio (53) und Vize-Präsident J. D. Vance (40) suggerieren, der Verfassungsschutz würde die politische Opposition zerstören wollen. Neumann betont im Interview mit der «Jüdischen Allgemeinen», dass eine präzise, öffentliche Zusammenfassung des Gutachtens in Deutsch und Englisch solche Missverständnisse wohl hätte verhindern können. Stattdessen wurde das Vertrauen in die Unabhängigkeit des Verfassungsschutzes geschwächt.