Der finnische Vize-Armeechef Vesa Virtanen über die wachsende Bedrohung
«Nahe unserer Grenze ziehen die Russen Truppen zusammen»

Moskau ist daran, seine Truppen an der finnischen Grenze zu vervierfachen. Für General Vesa Virtanen ist das kein Grund zur Panik: Der Ausbau diene nicht einem Angriff, sondern habe andere Ziele. Im Interview sagt er welche – wie sich der Nato-Beitritt auswirkt.
Publiziert: 02.08.2025 um 12:00 Uhr
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Aktualisiert: 03.08.2025 um 17:25 Uhr
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Die finnischen Soldaten üben nahe der russischen Grenze das Vordringen auf «feindliches Gebiet».
Foto: Guido Felder

Darum gehts

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Guido FelderAusland-Redaktor

Kaum ein Land kennt die Russen so gut wie die Finnen. Seit sie im letzten Weltkrieg angegriffen worden sind und Gebiete abtreten mussten, beobachten die Nordländer ihre unberechenbaren Nachbarn ganz genau. So verfolgen sie über ihre Geheimdienste, wie die Russen zurzeit direkt an der Grenze in grossem Masse Truppen zusammenziehen.

Obwohl das höchst beunruhigend tönt und europäische Regierungen vor einem baldigen Angriff Russlands auf weitere europäische Länder warnen, bleibt Vesa Virtanen (59), Chef des finnischen Verteidigungskommandos, gelassen. Im Interview mit Blick, das auf dem Trainingsgelände von Vekaranjärvi im Südosten Finnlands nahe der Nato-Ostgrenze geführt wurde, erklärt er warum.

General Virtanen, was braut sich gerade hinter der finnisch-russischen Grenze zusammen?
Vesa Virtanen:
Wir beobachten, wie die Russen nahe unserer Grenze Truppen zusammenziehen. Vor der russischen Invasion gab es da vier Brigaden mit rund 20’000 Soldaten, die nun zu Divisionen aufgestockt werden. Wir gehen davon aus, dass rund 80’000 Soldaten stationiert sein werden.

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Die finnischen Aufklärer üben das Vordringen in feindliches Gebiet.
Foto: Guido Felder

Woher nehmen Sie diese Informationen?
Wir hatten dank unserer Geheimdienste schon immer ein gutes Bild davon, was hinter der Grenze läuft. Seit dem Nato-Beitritt 2023 wissen wir noch mehr.

Was haben die Russen an der finnischen Grenze vor? Rechnen Sie bald mit einem Angriff?
Nein. Es sind Orte, wo Soldaten ausgebildet werden, um sie nachher in den Krieg in die Ukraine zu schicken. Einen Angriff auf Finnland halte ich für unwahrscheinlich, obwohl man es nicht ausschliessen darf. Die Russen hatten schon immer Truppen nahe unserer Grenze stationiert. Es ist aus militärischer Sicht nachvollziehbar, dass sie jetzt ihre Truppen verstärken.

Warum sollen sie sie verstärken, wenn sie angeblich keinen Angriff planen?
Es geht ihnen einerseits um die Grenzsicherung. Unsere gemeinsame Grenze ist ja jetzt auch eine Nato-Grenze. Andererseits wollen sie auf einen Kampf vorbereitet sein, falls etwas passiert.

Wären Sie bereit, wenn es zu einem Angriff kommen würde?
Wir waren schon immer bereit. Wir leben seit Jahren mit der Bedrohung aus dem Osten. Das ist auch der Grund, warum wir die Wehrpflicht nicht abgeschafft haben. Andere europäische Länder, die sich vor 20 Jahren in einem allgemeinen Trend von der Wehrpflicht verabschiedet hatten, nannten uns damals die letzten Mohikaner.

Ein Kenner der Schweiz

Generalleutnant Vesa Virtanen (59) aus Oulu – sein Grad ist in der Schweiz vergleichbar mit jenem des Korpskommandanten – ist Chef des Verteidigungskommandos der finnischen Streitkräfte. Er kennt die Schweiz gut, weil er seit den 1970er-Jahren mit einer inzwischen verstorbenen Familie aus dem Kanton Glarus befreundet war. So seien ihm das Martinsloch, das Suworow-Haus und natürlich auch Vreni Schneider bestens bekannt, sagt er. Virtanen ist verheiratet und Vater zweier Kinder.

Generalleutnant Vesa Virtanen (59) aus Oulu – sein Grad ist in der Schweiz vergleichbar mit jenem des Korpskommandanten – ist Chef des Verteidigungskommandos der finnischen Streitkräfte. Er kennt die Schweiz gut, weil er seit den 1970er-Jahren mit einer inzwischen verstorbenen Familie aus dem Kanton Glarus befreundet war. So seien ihm das Martinsloch, das Suworow-Haus und natürlich auch Vreni Schneider bestens bekannt, sagt er. Virtanen ist verheiratet und Vater zweier Kinder.

Mehrere europäische Regierungsvertreter warnen eindringlich vor einem Angriff Russlands auf Europa in wenigen Jahren. Sehen Sie das anders?
Ich würde die Menschen nicht mit solchen Aussagen erschrecken. Eine Ausweitung des Kriegs auf andere europäische Länder ist sehr unwahrscheinlich. Russland ist derzeit mit der Ukraine sehr ausgelastet. Aber: Europa muss sich vorbereiten und eine Abschreckung aufbauen, damit es nicht so weit kommen kann.

Gilt das noch, nachdem Donald Trump Moskau ein neues Ultimatum für Gespräche gestellt hat und der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew vor einem Krieg zwischen Russland und der USA warnt?
Ja. Man muss zwischen Worten und konkreten Massnahmen unterscheiden.

Wie lange wird der Krieg in der Ukraine noch dauern?
Das ist unmöglich einzuschätzen. Sicher ist für mich nur, dass die westlichen Länder den Angriff auf die Ukraine möglichst schnell stoppen müssen.

Wie denn?
Es gibt derzeit keine militärische Lösung. Man muss eine politische Lösung finden.

Wie schätzen Sie die russische Armee nach über drei Jahren Krieg ein?
Sie hat am Anfang Fehler gemacht, aber sie hat dazugelernt. Kriege sind ein ständiger Lernprozess. Ein weiterer Krieg wird wieder anders sein.

Was haben Sie selber aus dem Ukraine-Krieg gelernt?
Es gibt viele Lehren. Das Wichtigste für einen Erfolg ist, dass man den Geist und Willen haben muss, sein Land zu verteidigen. Dann braucht es einen guten Zusammenhalt der Einheiten. Drohnen und Satelliten zeigen uns, wie sich die Kriegsführung technisch weiterentwickelt hat.

Sollen westliche Länder Waffen liefern, mit denen die Ukraine Ziele bis nach Moskau angreifen kann?
Das ist eine politische Entscheidung.

Was ist Ihre Meinung?
Wenn ich militärisch denke, ja. Je besser und effektiver eine Waffe ist, desto besser kann man sich gegen einen Angriff wehren. Gleichzeitig gilt es, eine Eskalation zu verhindern.

Seit zwei Jahren ist Finnland Mitglied der Nato. Vertrauen Sie dem Bündnis überhaupt noch, seit Trump US-Präsident geworden ist?
Ich erkenne keine Veränderung in der Zusammenarbeit mit der Führung des US-Militärs. Unsere Zusammenarbeit mit den USA ist ausgezeichnet.

Könnte Finnland zu einem Standort für Atomwaffen werden?
Das steht nicht zur Diskussion.

Finnland hat sich unter Kritik vom Antipersonenminen-Abkommen zurückgezogen. Warum?
Wir müssen der Realität ins Auge schauen. Wir sehen, wie Russland seine Infanterie in der Ukraine einsetzt und Minen verlegt. Da wir ein kleines Land mit einer langen Grenze zu Russland sind, müssen wir die gleichen Möglichkeiten haben.

Finnland hat sich, wie die Schweiz, für den amerikanischen F-35-Jet entschieden und 64 Stück davon bestellt. Muss Finnland auch plötzlich einen viel höheren Preis zahlen?
Natürlich gibt es ständig Anpassungen, weil sich der Wechselkurs ändert oder gewisse Materialien schwieriger zu beschaffen sind. Aber diese Kosten-Diskussion wie in der Schweiz haben wir nicht.

Würden Sie wieder dieses Modell wählen?
Absolut. Die F-35 ist die Beste der Besten. Ab kommendem Jahr wird geliefert, bis 2030 sind die alten F/A-18 ersetzt.

Werden Finnland und die Schweiz – wie schon bei der F/A-18 – bei der Wartung des Fliegers weiterhin zusammenarbeiten?
Ich halte es für eine gute Idee, diese Zusammenarbeit weiterzuführen. Es ist eine Win-win-Situation, wenn sich Armeen, die das gleiche Material verwenden, austauschen und kooperieren.

Die Schweizer Armee befindet sich wegen Pleiten bei Beschaffungen und der Führung in der Krise. Welchen Eindruck haben Sie als Chef einer kampfbereiten Truppe von der Schweizer Armee?
Ich denke, dass jedes Land seine eigene Geschichte und Struktur hat. Unsere Bedrohungslage ist anders als in der Schweiz: Das Bewusstsein darüber, dass wir mit Russland schon in mehrere Kriege verwickelt waren, werden uns Finninnen und Finnen mit der Muttermilch weitergegeben.

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