Darum gehts
- Blick besuchte ein grosses finnisches Trainingscamp nahe der russischen Grenze
- In einer Übung trainierten Offiziersanwärter das Vordringen in feindliches Gebiet
- Finnland investiert stark und will die Wehrpflicht auf 65 Jahre erhöhen
Elf Mann und eine Frau pirschen durch Sumpf und Unterholz. Auf Umwegen haben sie die Front durchbrochen, um auf feindlichem Gebiet eine Aufklärungsmission durchzuführen. Bei hochsommerlichen 31 Grad und mit 40 Kilo Gepäck auf dem Rücken rinnt ihnen der Schweiss über das grün getarnte Gesicht. Nicht einmal die berüchtigten Mücken getrauen sich bei dieser Gluthitze hinaus.
In der Wildnis zieht die Truppe laufend und stolpernd einen grossen Kreis. Damit können die Soldaten leichter erkennen, ob ihnen der Feind auf dem gleichen Weg folgt. Und tatsächlich: Von einem Beobachtungspunkt aus erblicken sie feindliche Kämpfer. Auf dem Bauch liegend eröffnen die Soldaten das Feuer.
Bravo! Der Feind ist neutralisiert, die Übung erfolgreich beendet. Die Ausbildner und Vesa Virtanen (59), Chef des finnischen Verteidigungskommandos, der an diesem Tag zu Besuch ist, sind zufrieden. Als Beobachter sind sie der Truppe rund zwei Stunden lang gefolgt. Auch ihnen läuft der Schweiss unter dem Helm hervor.
«Nur die Besten»
Die zwölf Wehrpflichtigen eines Aufklärungsteams stammen aus verschiedenen finnischen Armee- und Grenzwachteinheiten. Im Rahmen ihres ein Jahr dauernden Militärdienstes kämpfen sie sich in einem 14-wöchigen Lehrgang im 30 Quadratkilometer grossen Armeegelände Vekaranjärvi zum Reserveoffizier hoch. Das Armeezentrum nahe der südostfinnischen Stadt Kouvola ist die Heimat der Karelia Brigade, einer von drei finnischen Bereitschaftstruppen.
Die finnische Reserve bildet das Rückgrat der finnischen Verteidigung. «Für diesen Kurs werden daher nur die besten ausgewählt», sagt Oberstleutnant Tino Savolainen (48), Leiter des Reserveoffizierkurses.
Krieg liess Finnland schrumpfen
Generell sprechen die finnischen Soldaten in Training nur vom «Feind». Den Namen des grossen Landes, das rund 60 Kilometer entfernt liegt, nimmt niemand in den Mund.
Die Finnen bekamen immer wieder zu spüren, dass sie neben einem nicht nur mächtigen, sondern auch unberechenbaren Nachbarn leben. 1344 Kilometer lang ist die gemeinsame Grenze mit Russland. Sie hat sich nach dem 2. Weltkrieg, in dem die Finnen zweimal gegen die Sowjets gekämpft hatten, verändert. Finnland musste gemäss dem Friedensvertrag von 1947 rund zehn Prozent seines damaligen Staatsgebiets an den Nachbarn abgeben, rund 400’000 Finnen mussten ihr Haus dem Feind überlassen und umsiedeln.
Diese Geschichte sitzt den Finnen heute noch tief in den Knochen und wird – wie Vesa Virtanen sagt – «den Kindern in der Muttermilch weitergegeben». Aus diesem Grund gehört Finnland zu den grössten Unterstützern der Ukraine. Denn die Finnen wissen genau, wie es ist, wenn der grosse Nachbar über die Grenze kommt und zuschlägt.
«Eine echte Verstärkung für die Nato»
Jahrzehntelang war für Finnland die Nato-Mitgliedschaft tabu, weil man Moskau nicht provozieren wollte. Stattdessen investierte das Land, das flächenmässig achtmal so gross ist wie die Schweiz, aber nur 5,6 Millionen Einwohner zählt, ständig in die eigene Armee. Diese zählt in Heer, Marine und Luftwaffe zurzeit rund 13’000 aktive Soldaten. Dank der allgemeinen Wehrpflicht für Männer, die stets aufrechterhalten wurde, stehen 870’000 Reservisten bereit. Im Ernstfall können davon 280’000 aufgeboten werden.
Als sich Finnland vor zwei Jahren wegen der wachsenden Bedrohung zusammen mit Schweden doch entschloss, der Nato beizutreten, sprach der damalige ETH-Sicherheitsexperte Niklas Masuhr im Blick von einer «echten Verstärkung» für das Bündnis.
Dienst bis 65
Wegen der aktuellen Bedrohung will Finnland in allen Bereichen der Verteidigung ausbauen. Die Ausgaben sind in den vergangenen drei Jahren um ein Prozent auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angehoben worden. Mittelfristiges Ziel soll über 3 Prozent sein. Durch die Erhöhung des Wehrdienstalters von heute 60 auf 65 Jahre will die Regierung die Reserve auf eine Million Soldaten verstärken.
Seit Russland die Ukraine überfallen hat, hat sich die Stimmung bei den jungen finnischen Rekruten verändert. Sie verteidigen jetzt nicht mehr nur ihr eigenes Land, sondern das ganze Nato-Bündnis. Tino Savolainen zeigt anerkennend auf die jungen Soldaten und sagt: «Als ich selber in der Ausbildung steckte, waren Gefahr und Krieg weit weg. Die heutigen Rekruten nehmen es viel ernster und sind stolz darauf, ihr Land verteidigen zu können.»