Ausnahmezustand in El Salvador – Tausende Unschuldige im Knast
Gefangen im System Bukele

Machthaber Nayib Bukele inszeniert den Sieg über die kriminellen Banden als historischen Triumph. Doch im Schatten der neuen Ordnung verschwinden Tausende.
Publiziert: 20.07.2025 um 15:53 Uhr
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Aktualisiert: 20.07.2025 um 17:17 Uhr
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Mario Martínez und seine Frau Vilma Villanueva in ihrem Wohnzimmer in Santa Tecla. Ihr Sohn José ist seit über zwei Jahren ohne Anklage in Haft.
Foto: Linda Käsbohrer

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Linda KäsbohrerFotografin

San Salvador, kurz nach Sonnenaufgang. An einem Strassenstand brutzeln Pupusas, Maisfladen gefüllt mit Bohnen und Käse. Nebenan dröhnt der Berufsverkehr. Hunderte Angehörige von Inhaftierten haben sich versammelt. Sie halten selbst gebastelte Plakate in die Höhe – mit Fotos ihrer Kinder, Geschwister oder Partner. Darunter ein Satz, der immer wieder auftaucht: Libertad para los inocentes – Freiheit für die Unschuldigen.

Sandra Patricia Vázquez steht in der vordersten Reihe. Auf ihrer schwarzen Baseballkappe steht: Defendamos la inocencia – Verteidigen wir die Unschuld. Sie demonstriert gegen das Ausnahmeregime unter Präsident Nayib Bukele und fordert die Freilassung ihres Sohnes José (22). Er befindet sich seit über zwei Jahren ohne Anklage in Haft. In der Hand hält sie sein Foto. «Er hat als Uber-Fahrer gearbeitet, war immer ehrlich», sagt sie.

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Regiert El Salvador mit harter Hand: Präsident Nayib Bukele.
Foto: AFP

El Salvadors Ausnahmezustand gilt seit März 2022. Ausgelöst wurde er durch ein Wochenende mit 87 Toten – ein Höhepunkt in einem jahrzehntelangen Bandenkrieg. Zwei rivalisierende Gruppen, die Mara Salvatrucha (MS-13) und Barrio 18, hatten ganze Stadtviertel kontrolliert – rekrutierten Jugendliche, kassierten Schutzgeld, ermordeten Gegner. Bukele reagierte mit Massenverhaftungen. Das Ausnahmeregime wurde seither 40 Mal verlängert und längst zum Normalzustand.

Verhaftet nach einem anonymen Anruf

Laut offiziellen Angaben wurden bislang über 85'000 Menschen festgenommen. Die Bandenstrukturen gelten als weitgehend zerschlagen. Doch längst nicht alle Inhaftierten sollen schuldig sein: die salvadorianische Menschenrechtsorganisation Socorro Jurídico Humanitario schätzt, rund ein Drittel der Inhaftierten sei unschuldig. Festgenommen ohne Haftbefehl, auf Basis anonymer Hinweise oder vager Verdächtigungen wie eines falschen Tattoos. Auch unter den jüngst aus den USA abgeschobenen Venezolanern befinden sich etliche, die ohne klare Beweise im Hochsicherheitsgefängnis Cecot landeten.

José wurde auf dem Heimweg von der Arbeit festgenommen. Angeblich habe er Kontakt zu Banden gehabt. Seine Mutter glaubt: Es war Verleumdung durch einen Arbeitskollegen. Aus purem Neid. «Nur weil mein Sohn sich ein neues Paar Schuhe gekauft hat. Weil er fleissig war.»

Vázquez sagt, ihr Sohn habe sich nie etwas zuschulden kommen lassen. «Er hat hier bei uns gewohnt, war nie in krummen Dingen.» Heute sitzt José im Mariona, einem der härtesten Gefängnisse des Landes. Die Familie hat seit seiner Verhaftung nichts mehr von ihm gehört. Es ist nicht das erste Mal, dass Vázquez ein Kind verliert: 2012 verschwand ihre damals 18-jährige Tochter. Entführt, vergewaltigt, getötet von den Banden. Ihre Leiche wurde nie gefunden. «Wir waren Opfer der Banden, nun sind wir Opfer der Regierung.»

Die Härte des Ausnahmezustands trifft nicht selten Menschen, die einst an Bukele glaubten. Mario Martínez (64), Mathematiklehrer und stellvertretender Schuldirektor, hatte Bukele zweimal gewählt. Wie Vázquez glaubte er an dessen Vorgehen – bis zu jenem Tag im November 2022, als seine Tochter Mariana verhaftet wurde. Eine Nachbarin behauptete, sie sei mit einem Bandenmitglied liiert. Beweise hatte sie keine. Mariana ist zu diesem Zeitpunkt 25, steht kurz vor dem Studienabschluss und hat gerade ihr US-Arbeitsvisum erhalten. Martínez: «Ein anonymer Anruf und man wird verhaftet.»

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Mario Martínez (64) wurde verhaftet, nachdem er öffentlich für die Freilassung seiner Tochter Mariana (27) protestiert hatte.
Foto: Linda Käsbohrer

Martínez beginnt öffentlich zu protestieren, gibt Interviews, nennt Bukele einen «Henker». Seine Worte gehen viral. Wenige Wochen später steht die Polizei vor seiner Tür. Ein Mord in der Nachbarschaft dient als Vorwand, Martínez wird festgenommen. Sein Sohn José (28) versucht noch, ihn zu verteidigen – vergeblich. Auch er wird abgeführt. Vater und Sohn kommen ins Gefängnis.

Martínez’ Tochter wird nach einigen Monaten entlassen, er selbst im Oktober 2023. Sein Sohn José hingegen sitzt bis heute im Gefängnis. Die Behörden erklären, man prüfe noch seine Unschuld. Doch für Martínez steht fest: «Es ging nie um Gerechtigkeit – es ging darum, möglichst viele Menschen zu verhaften.» Wer als Polizist hohe Zahlen liefere, werde belohnt. Und nun könne man nicht einfach alle Unschuldigen freilassen. «Das würde dem Image der Regierung extrem schaden.» Besonders verheerend sei die Praxis der sogenannten «fichas» – fingierten Polizeieinträge, in denen angebliche Vorstrafen oder Gangverbindungen konstruiert werden.

«Manchmal warfen die Wärter zum Spass Tränengas in die Zelle»

An die Zeit in Gefangenschaft erinnert sich Martínez gut: 300 Männer in einem Raum, kaum grösser als ein Klassenzimmer. Geschlafen wurde auf nacktem Beton, ein Plastikeimer mitten im Raum diente als Toilette. Geduscht wurde um vier Uhr morgens in Zehnergruppen: eine Minute und drei Schöpfkellen Wasser. Wer zu lange brauchte, wurde geschlagen. «Ich wusch mir kurz den Kopf und rannte zurück. Hauptsache, ich war nicht der Letzte.» Zum Essen gab es immer dasselbe: Bohnen, Reis, eine Tortilla. Das Plastikgeschirr musste nach einer Minute wieder abgegeben werden. «Viele kippten ihr Essen auf den Boden, um es später wie Hunde aus dem Dreck zu fressen.»

Manchmal hätten die Wärter zum Spass Tränengas in die Zelle geworfen. Die Insassen litten an Hautausschlägen, Eiterpickeln und offenen Wunden. Medizinische Hilfe sei oft erst gekommen, wenn es bereits zu spät war. «Bukele vergiftet alles, nur um einen Teil zu heilen.» Die ernüchternde Bilanz eines Mannes, der an das Versprechen von Ordnung glaubte und heute weiss, welchen Preis sie hat. Richtig frei ist Martínez bis heute nicht. Er und seine Tochter müssen sich regelmässig bei der Staatsanwaltschaft melden. Ausreisen dürfen sie nicht.

Nach der Freilassung verlor Martínez seinen Job. «Sie wollten keinen ehemals Inhaftierten», sagt er. Einen neuen Job zu finden, sei in seinem Alter kaum mehr möglich. Die 8500 Dollar Gehalt, die ihm für die Monate in Haft zustehen würden, hat er bislang nicht erhalten. Um über die Runden zu kommen, verkauft seine Frau vor dem Haus Maisfladen – zehn Stück für 50 Rappen. Im Haus sprechen sie leise. Ihr Enkel, der Sohn von José, soll glauben, sein Vater arbeite im Ausland und komme bald zurück.

Über 425 dokumentierte Todesfälle

Laut dem Socorro Jurídico Humanitario sind seit Einführung des Ausnahmezustands über 425 Todesfälle in salvadorianischen Gefängnissen dokumentiert. Ingrid Escobar, Juristin und Leiterin der Organisation, unterstützt Angehörige im juristischen Prozess. Sie sitzt in ihrem Büro im Zentrum von San Salvador. Durch die halb geschlossenen Jalousien fällt gedämpftes Licht, ein Luftzug zieht durch die angelehnte Tür.

Escobar gegenüber sitzt Mia*. Auf ihrem Schoss ein Stapel Papiere – Akten, die das Schicksal ihres Vaters Santos Navarro (†54) dokumentieren. Navarro war Lebensmittelhändler in Santa Tecla. Im Juli 2023 wird er während der Arbeit verhaftet – offenbar aufgrund einer anonymen Anzeige. Ein Überwachungsvideo zeigt, wie er überfordert beinahe vom Stuhl fällt, als ihn die Polizisten ansprechen. Sie nehmen ihn mit, das Geld aus seiner Kasse gleich dazu.

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Anwältin Ingrid Escobar im Büro der Menschenrechtsorganisation Socorro Jurídico Humanitario. Bei ihr Mia, Tochter des im Gefängnis verstorbenen Santos Navarro (†54).
Foto: Linda Käsbohrer

Navarro war Diabetiker. Im Gefängnis verschlechtert sich sein Zustand rapide, durch eine unbehandelte Infektion verliert er drei Zehen. Im November 2024 wird Navarro in ein Krankenhaus verlegt. Die Familie erfährt paar Tage später davon. Mia, die normalerweise in Spanien lebt, reist nach El Salvador und versucht über eine Krankenschwester Medikamente einzuschleusen – 300 Dollar Schmiergeld. Ob sie je ankamen, weiss sie bis heute nicht. Acht Tage später meldet sich die Gerichtsmedizin: Santos ist tot. Escobar spricht von «einem Akt staatlicher Willkür». Ihr Team erstattet Anzeige: gegen die Polizeibeamten, den Gefängnisdirektor, das Krankenhaus – und die politischen Verantwortlichen.

Was derzeit in El Salvador geschehe, sagt Escobar, erinnere an die autoritären Entwicklungen in Venezuela und Nicaragua. Was dort während 25 Jahren passierte, geschehe hier in fünf. «Die Welt glaubt, Bukele sei ein Held. Dabei ist er vor allem eines: ein Meister der Propaganda.»

Ordnung schafft Vertrauen

Warum hat Bukele trotz allem noch so viel Rückhalt in der Bevölkerung? Ein Besuch in der ehemaligen Bandenhochburg Zacamil zeigt, was sich seit dem Ausnahmeregime verändert hat. «Früher lag hier fast täglich ein Toter», sagt Luis Alberto und deutet auf eine unscheinbare Seitenstrasse. Der 34-Jährige ist in Zacamil aufgewachsen, einem Viertel im Norden von San Salvador, das von der Barrio 18 regiert wurde. Drogenhandel, Morde und Angst waren alltäglich. Als Jugendlicher lernte Alberto, den Gefahren aus dem Weg zu gehen. «Wer im Viertel der gegnerischen Gang gesehen wurde, wurde kaltblütig ermordet.»

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Ein Spaziergang durch Zacamil, eine frühere Bandenhochburg im Norden von San Salvador.
Foto: Linda Käsbohrer

Heute sei das anders. Seitdem die Banden verschwunden sind, habe sich das Leben verändert. Die Regierung investierte in Spielplätze, eine Bibliothek und ein Gemeindezentrum. Ehemalige Gang-Graffitis wurden übermalt, Künstlerinnen aus aller Welt haben bunte Wandbilder geschaffen. «Heute bleiben die Kinder bis spätabends draussen», erzählt er. Auch seine beiden Töchter können nun ohne Angst, den falschen Bus zu nehmen, zur Schule gehen. El Salvador galt lange als eines der gefährlichsten Länder weltweit. Heute zählt es zu den sichersten in Lateinamerika.

Luis Martínez (54), langjähriger Polizist im Centro Histórico, ist stolz auf diese Entwicklung. Die Kritik an willkürlichen Festnahmen weist er zurück. Die Polizei arbeite nur mit sogenannten «perfilados» – Personen, die bereits im System erfasst seien. Dass dabei auch Unschuldige betroffen sein könnten, bestreitet er nicht ausdrücklich. «Das hat mit der Untersuchung zu tun», sagt er.

Es ist ein Narrativ, das sich mit dem Selbstbild von Präsident Nayib Bukele deckt: ein Reformer, der das Land von der jahrzehntelangen Gewalt erlöst. Oder auch der «coolste Diktator der Welt», wie er sich einst selbst bezeichnete. 2024 wird Bukele mit grosser Mehrheit wiedergewählt – obwohl die Verfassung eine direkte Wiederwahl untersagt. Möglich machte das ein von ihm neu besetztes Verfassungsgericht. Nun befindet sich der 43-Jährige bereits in seinem siebten Präsidentschaftsjahr.

«Wenn ich schweige, bin ich mitverantwortlich»

Vázquez und der Demonstrationszug sind mittlerweile vor El Salvadors Nationalbibliothek angekommen. 2023 mit grossem Pomp eröffnet, steht das monumentale Gebäude für Bukeles Versprechen von Fortschritt und Ordnung. Symbol einer Hochglanzpolitik, während Tausende zu Unrecht verschwinden. Vázquez, deren Sohn José im Februar 2023 festgenommen wurde, gibt nicht auf. «Ich hoffe auf Gott. Vor seinen Augen bleibt nichts verborgen.» Sie stellt sich zurück in die Menge. Das Foto ihres Sohnes hält sie nun hoch über dem Kopf. «Wenn ich schweige, bin ich mitverantwortlich. Das bin ich meiner Tochter schuldig. Und meinem Sohn erst recht.»

* Name geändert 

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