Darum gehts
- Türkische Regierung wiegt Bürger auf der Strasse für Gesundheitskampagne
- Übergewichtige werden zum Gesundheitsamt geschickt für Abnehm-Hinweise
- WHO erwartet bis 2060, dass 94 Prozent der türkischen Bevölkerung übergewichtig sind
Wir werden immer dicker! Das ist Fakt. Mehr als eine Milliarde Menschen weltweit sind übergewichtig. Damit hat sich die Zahl der Betroffenen in rund 30 Jahren vervierfacht, wie eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie belegte.
Laut den Schätzungen der Forscher gab es 1990 weltweit etwa 226 Millionen übergewichtige Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Inzwischen sind es deutlich mehr. Auch in der Türkei. Und genau das soll jetzt ein Ende haben. Präsident Recep Tayyip Erdogan (71) will, dass das Land abspeckt. Darum werden seine Landsleute seit dem 10. Mai bis zum 10. Juli im ganzen Land kräftig gewogen. Die «Berliner Morgenpost» hat zuerst darüber berichtet.
Gesundheitsminister bekommt auch sein Fett weg
Das türkische Gesundheitsministerium hat die Kampagne «Lerne Dein Gewicht kennen, lebe gesund» ins Leben gerufen. Das Ziel: Rund zehn Millionen Menschen auf die Waage stellen. Dazu wird Körpergrösse und Alter abgefragt. Damit wird der Body-Mass-Index (BMI), also das Verhältnis von Gewicht zu Grösse, ermittelt. Und wer auf dem Index über 25 landet, muss zum Gesundheitsamt, um Tipps zum Abnehmen zu bekommen.
Gesundheitsminister Kemal Memisoglu (59) ging mit gutem Beispiel voran. Er liess sich schon öffentlich wiegen. Mit dem Ergebnis: ein BMI von 24,9. Ein Grenzfall. Aber er will auch ein paar Pfunde verlieren. Seine Methode: Diät und mehr Spaziergänge.
«Der Vorschlag ist Humbug»
Aber bringt das wirklich Menschen dazu, Gewicht zu verlieren, wenn sie öffentlich gewogen und vermessen werden? Experten sind skeptisch. «Klar, Übergewicht führt zu hohen Gesundheitskosten (Bluthochdruck, Herzinfarkte, Schlaganfälle, Asthma, Diabetes). Eine Senkung wäre wünschenswert und würde Kosten sparen», sagt Stefan Felder, Gesundheitsökonom von der Uni Basel, zu Blick.
Besonders, weil mehr als die Hälfte der Frauen und gegen die Hälfte der Männer einen BMI-Wert von 25 oder mehr haben. «Die türkischen Gesundheitsämter wären nie in der Lage, die halbe Bevölkerung der Türkei mit Ratschlägen zum Abnehmen zu bedienen.» Darum hat Felder auch eine klare Meinung zur Wiege-Aktion. «Der Vorschlag ist Humbug. Die Beratung sollte Aufgabe der Hausärzte sein und nicht der Gewichtspolizei sein.»
Tobias Müller, Gesundheitsökonom von der Berner Fachhochschule teilt Felders Meinung. «Hinweise zum Abnehmen alleine dürften kaum eine langfristige Verhaltensänderung herbeiführen», glaubt er. Das sei in der wissenschaftlichen Literatur gut dokumentiert. Erfolgsversprechender sei es, ungesundes Essverhalten «teurer» zu machen.