Zum 21. Januar
Kernschmelze - Und aus der Traum von der Schweizer Atombombe

Vor 50 Jahren ereignete sich in Lucens VD das schlimmste Atomunglück der Schweizer Geschichte: Im unterirdischen Versuchskraftwerk kam es zur Kernschmelze - ein Störfall des Schweregrads 5 von 7.
Publiziert: 15.01.2019 um 15:00 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2019 um 14:16 Uhr
Eine Beschriftung des ehemaligen Versuchsatomkraftwerks Lucens im Kanton Waadt, aufgenommen am 5. Mai 1998. (Archivbild)
Foto: KEYSTONE/MARTIN RUETSCHI

Dem Strahlenschutzbeauftragten rutschte schier das Herz in die Hose, als er kurz nach der überraschenden Selbstabschaltung der Anlage seinen Kontrollgang machte. Am Eingang zur Reaktorkaverne hing eine Personen-Kontrollmarke. Mit solchen Plaketten zeigten in Lucens Arbeiter an, dass sie sich im jeweiligen Bereich aufhielten.

Hinter der Tür, in der Reaktorhöhle, war schon allein die Konzentration an ausgetretenem Kühlgas tödlich. Die Radioaktivität konnte erst gar nicht gemessen werden, weil sie über dem Maximum auf den Messinstrumenten lag. Doch Glück im Unglück: Der entsprechende Arbeiter wurde heil und munter anderswo aufgefunden. Er hatte vergessen, seine Marke abzuhängen.

Aber die Reaktorkaverne war nicht ganz dicht: Die Radioaktivität breitete sich bis zum 100 Meter entfernten Kontrollraum aus. In der dem Reaktor nächstgelegenen Maschinenkaverne wurde eine mit dem Abstellen der Turbine beschäftigte Equipe verstrahlt. Da die Dekontaminations-Duschen unbrauchbar waren, mussten die Arbeiter in einem Provisorium ohne Warmwasser duschen - eine recht prickelnde Erfahrung so mitten im Winter, wie ein Zeitzeuge 1972 auf einem Kongress in Karlsruhe berichtete.

Gegen aussen war die Anlage auch nicht ganz hermetisch, aber zwei angeforderte Strahlenschutzbeauftragte der Eidgenössischen Kommission für die Überwachung der Radioaktivität konnten in den umliegenden Dörfern nur einen geringen Anstieg der Strahlung feststellen.

Die unterirdische Bauweise der Anlage hatte Bevölkerung und Umwelt vor dem schlimmsten bewahrt. Zugleich war sie wohl auch mit schuld an der Havarie: Von aussen eindringendes Wasser war immer wieder ein Problem gewesen.

So auch nach der ersten dreimonatigen Betriebsphase 1968, als die Anlage zwecks Revision stillgelegt wurde. Von der Belegschaft unbemerkt drang Wasser ein und brachte die Magnesiumummantelung der Brennstäbe zum Korrodieren. Die Rostflocken sanken nach unten und verstopften die Kanäle für das Kühlgas. Als der Betrieb in den frühen Morgenstunden des 21. Januars 1969 wieder aufgenommen wurde, dauerte es 13 Stunden bis zu Kernschmelze, Brand und Explosion.

Die Anlage wurde bis 1973 rückgebaut, das radioaktive Material in Fässer eingeschweisst und zum Teil auf dem Gelände eingemauert, zum Teil ins Zwischenlager Zwilag in Würenlingen verbracht. Der Bund liess die Strahlung in und um die Anlage bis in die 1990er Jahre regelmässig messen - ohne besorgniserregenden Befund. Heute nutzt der Kanton Waadt diejenigen Räume, die nicht zubetoniert wurden, als Museumsdepot.

Die Schweiz war haarscharf an einem Gau vorbeigeschrammt - und schwieg hübsch still. Als zehn Jahre später in Three Mile Island bei Harrisburg ein Atomunfall vom selben Schweregrad vorfiel, ging ein Aufschrei um die Welt.

Nicht so im Fall von Lucens. Ende der 60er Jahre genoss man in der Schweiz noch die strahlende Aussicht auf Atomkraft als saubere und unerschöpfliche Energiequelle. Und dass bei der Stromproduktion waffenfähiges Plutonium als Spaltprodukt anfiel, kam der Schweiz im Kalten Krieg auch ganz gelegen.

In den letzten Jahren haben mehrere Kritiker betont, dass das militärische Interesse im Fall von Lucens primär war, und nicht die zivile Nutzung zur Stromversorgung. Denn als der Versuchsreaktor am 29. Januar 1968 erstmals Elektrizität ins öffentliche Netz abgab, war das bereits kalter Kaffee.

Anstatt auf den eigenen Reaktor zu warten, hatten sich Stromproduzenten wie BKW oder NOK für den Bau von Atomkraftwerken mit amerikanischen Reaktoren entschieden. Bereits 1965 hatten die Bauarbeiten für das AKW Beznau I begonnen, zwei Jahre später für das AKW Mühleberg. Sulzer hatte sich 1967 aus dem Projekt Lucens verabschiedet.

Dass in Lucens danach trotzdem weiter gebaut wurde und sich dabei die budgetierten Kosten fast verdoppelten, führen zwei Autoren von neueren Bücher auf das Interesse an der Atombombe zurück: der Physiker und Chemiker Peter Beutler in seinem Krimi "Lucens" und der Historiker Michael Fischer in seinem demnächst erscheinenden Sachbuch "Atomfieber".

Zusammen mit dem Energie- und Atompolitikberater Mycle Schneider referieren und diskutieren die beiden am 21. Januar auf einer Veranstaltung der Energiestiftung Schweiz im Volkshaus in Zürich.

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