Auf einen Blick
Graue Bürogebäude dösen neben Lagerhallen vor sich hin, daneben liegt ein frisch gepflügter Acker in der Sonne. Leute sind nicht zu sehen – es ist kurz nach Mittag im Industriequartier von Schwerzenbach ZH.
Wir sind zu dritt unterwegs und haben ein Ziel im Fokus: den Hauptsitz der Intrum AG. Katharina Siegrist, Fabienne Stich und ich arbeiten alle schon lange beim Beobachter – und wir sind vollgepackt. Mit Gesetzesartikeln, die wir auswendig kennen, mit parlamentarischen Anfragen und Abhandlungen des Bundesrats, aber vor allem mit einem: Wut im Bauch.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Seit Jahren hören wir die Sorgen von Beobachter-Mitgliedern, die mit Inkassobüros zu tun haben und unsere Hotline anrufen. Sie sind wütend, genervt, verängstigt oder überfordert.
Die einen bekommen Zahlungsaufforderungen für Pillen, Pullover oder Parfums, die sie gar nicht bestellt haben. Die anderen haben tatsächlich etwas bestellt, aber die Rechnung zu spät bezahlt. Und fragen: Muss ich wirklich die Gebühren zahlen, die das Inkassobüro draufschlägt? Wenn ich zum Beispiel Turnschuhe für 120 Franken auf Rechnung bestelle und die Zahlungsfrist verpasse – muss ich wirklich zusätzlich bis zu 100 Franken Verzugsschaden zahlen?
All die sympathischen Leute hier
Die Kommunikationschefin von Intrum holt uns beim Eingang eines älteren Gebäudes ab. Jaël Fuchs ist sympathisch – wie alle Leute, die wir hier kreuzen. Sie hatte mir gemailt wegen meines Artikels «Es muss nicht immer Betreibung sein». Darin rate ich Gläubigern, kein Inkassobüro zu beauftragen. «Ihr Bild der Inkassobranche erscheint uns etwas pauschal und veraltet», schrieb mir die Frau. Da bin ich aber gespannt, dachte ich, und schlug ein Treffen vor.
Im Sitzungszimmer erwartet uns der «Commercial Director» von Intrum, Jason Glanzmann. Wir trinken Kaffee. Auch er ist sympathisch. Und schon seit vielen Jahren im Geschäft, erzählt er. Es sei ihnen allen bewusst: Die Zeiten von aggressiven Inkassobüros, die arme Verschuldete am Arbeitsplatz heimsuchen und bedrohen, seien vorbei.
Die Tabelle für horrende Gebühren
Die Branche habe sich geändert – niemand würde mehr ein Inkassobüro beauftragen, das Leute einschüchtert. Wenn eine Forderung nicht berechtigt sei, schicke Intrum vorerst keine Zahlungsaufforderungen mehr. Es genüge in diesem Fall, das Onlineformular auszufüllen und die Forderung glaubhaft zu bestreiten. Dann müsse der Gläubiger zuerst einmal einen Beweis vorlegen, dass die Person tatsächlich etwas schulde.
Klingt alles schön und gut. Aber was ist mit dem Verzugsschaden? Unter diesem Titel schlagen Inkassobüros horrende Gebühren drauf – ohne jede rechtliche Grundlage. Glanzmann verweist auf die Tabelle von Inkasso Suisse, dem Verband der Inkassobüros.
Die ist uns nur zu gut bekannt: Je höher die Forderung, desto mehr «Verzugsschaden» sei geschuldet, behauptet die Zahlenreihe, als wäre das gottgegeben. Der Verband begründet das auf seiner Website mit Artikel 106 des Obligationenrechts – demnach müsse «der Schuldner den aus verspäteter Zahlung entstehenden Schaden erstatten».
Die Höhe dieses Verzugsschadens sei abhängig von der Höhe der Forderung. Und das Maximum werde festgesetzt «aufgrund von empirisch erhobenen und wissenschaftlich geprüften Zahlen von vergleichbaren Fällen».
Der Verband der Inkassobüros unterschlägt zentrale Punkte
Das klingt juristisch-schlau. Doch es ist nicht einmal zur Hälfte richtig. Der Verband unterschlägt zentrale Voraussetzungen für Schadenersatz, die der Artikel 106 nennt.
Erstens steht da auch noch, dass nur dann etwas geschuldet ist, wenn der Schaden nicht bereits durch die Verzugszinsen gedeckt ist. Man kann nämlich stets 5 Prozent Verzugszins verlangen oder mehr, wenn es im Vertrag steht.
Zweitens müssen Gläubiger beweisen, dass wegen eines bestimmten Kunden tatsächlich ein ganz konkreter Schaden entstanden ist. Fallen darunter auch Kosten, die ein Betrieb dem Inkassobüro zahlen muss? Das ist juristisch nicht geklärt. Denn nur wenige Juristinnen und Juristen haben sich überhaupt dazu geäussert – und die widersprechen sich auch noch: Die einen sagen, Inkassokosten könne man nie überwälzen, die anderen das Gegenteil.
Das Bundesgericht müsste Klarheit schaffen
Und was sagen die Gerichte? Es gibt ein paar kantonale Entscheide, aber auch die kommen zu verschiedenen Resultaten. Deshalb bräuchte es ein Urteil des Bundesgerichts, das Klarheit schafft und sagt, ob überhaupt und unter welchen Voraussetzungen Inkassokosten als Verzugsschaden nun geschuldet sind. Doch das gibt es bis heute nicht.
Fazit: Verzugsschaden ist gemäss Obligationenrecht nur geschuldet, wenn mehrere Voraussetzungen erfüllt sind. Insbesondere braucht es einen konkreten Schaden, der dem Gläubiger entstanden ist durch die verspätete Zahlung – und den er beweisen kann. Juristisch unklar ist, ob darunter das Honorar fallen kann, das er dem Inkassobüro zahlen muss. So oder so steht fest: Der pauschale Verzugsschaden gemäss den Tabellen des Verbands ist Humbug – denn damit ist kein konkreter Schaden bewiesen.
Auf dieses Argument haben wir gewartet
Was sagt Jason Glanzmann, Commercial Director von Intrum? Wir schmettern alle unsere Argumente auf den Tisch. Die haben wir uns nicht allein ausgedacht – der Bundesrat ist der gleichen Meinung.
Glanzmann geht nicht näher darauf ein, dass meistens nicht alle Voraussetzungen für den gesetzlichen Verzugsschaden gegeben sind. Denn, so fügt er hinzu: «Auf das Gesetz müssen sich Gläubiger ohnehin nur stützen, wenn sie keine vertragliche Grundlage haben. Und die gibt es meistens, etwa in den allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB).» Sehr schön, denken wir und reiben uns die Hände – auf dieses Argument haben wir gewartet.
Die vertragliche Grundlage genügt meist nicht
Denn etwas bezahlen muss man nur, wenn eine Forderung eine gesetzliche oder vertragliche Grundlage hat. Gesetzlich ist nur etwas geschuldet, wenn es einen konkreten Schaden gibt – den gibt es aber vermutlich nie. Eine vertragliche Grundlage wäre für Betriebe und Inkassobüros ein viel besseres Argument.
Doch auch hier braucht es verschiedene Voraussetzungen. Die sind etwa erfüllt, wenn der Turnschuh-Shop in seine AGB schreibt, dass Kunden stets 20 Franken bezahlen müssen, wenn er ein Inkassobüro einschaltet. Denn erstens müssen tatsächlich Zahlen drinstehen und nicht nur Worte. Und zweitens dürfen die Beträge nicht völlig überrissen sein. Sonst könnte eine Richterin, ein Richter sie herabsetzen.
Meist nicht korrekt formuliert
Die allermeisten Anbieter von Waren, Dienstleistungen oder Telekomdiensten schaffen es aber nicht, das in ihren AGB korrekt zu formulieren. So steht oft etwas im Stil von «Der Shop darf jederzeit Dritte für das Inkasso beiziehen, der Kunde schuldet hierfür Gebühren». Das genügt nicht – weil keine Zahlen.
Fazit: Nur sehr wenige Anbieter haben eine genügende vertragliche Grundlage in ihre AGB geschrieben. Entweder steht nichts oder nur irgendein Satz ohne Zahlen. Die Folge: Sie müssen eine gesetzliche Grundlage irgendwie daherargumentieren, aus dem Obligationenrecht – doch das gelingt eigentlich nie, wie oben bereits auseinanderfiletiert.
Der Beobachter bleibt hart
Was sagt Jason Glanzmann dazu? «Intrum empfiehlt allen Kunden, die Gebühren für den Fall des Zahlungsverzugs vertraglich zu vereinbaren und diese Gebühren auch auf der letzten Mahnung vor der Inkassoübergabe anzukündigen.» Und sie würde immer nachprüfen, ob ein Gläubiger eine entsprechende Klausel in den AGB hat. Das ändert aber nichts daran: Wenn in den AGB nichts absolut Glasklares steht, sind keine Inkassokosten geschuldet.
Ein paar Stunden später treten wir wieder ins Freie, in die ruhige Schwerzenbacher Luft. Und sind zufrieden. Weil wir uns nicht haben mitreissen lassen und hart argumentiert haben.
Und wir sind erstaunt, wie gut wir mit den Leuten von Intrum reden konnten. Doch wir werden hart bleiben. Trotz der Intrum-Schreibblöcke und -Bleistifte, die man uns geschenkt hat. Wir werden die Beobachter-Mitglieder weiterhin korrekt beraten: In den allermeisten Fällen müssen sie keinen Verzugsschaden zahlen.