Woran das Gesundheitswesen wirklich krankt
Die Krankenkassen-Prämien steigen um 5 Prozent

Wir bezahlen mehr und mehr für unsere Gesundheit. Die Kosten betragen 2018 schon 88 Milliarden Franken. Das liegt auch daran, dass viele Schweizer immer häufiger zum Arzt rennen.
Publiziert: 23.09.2017 um 23:39 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 04:55 Uhr
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Kathedrale der Moderne: Das Schweizer Gesundheitssystem verschlingt bald 88 Mil­liarden.
Foto: Illustration: Igor Kravarik
Moritz Kaufmann, Christian Kolbe, Tobias Marti und Cyrill Pinto

Am kommenden Donnerstag überbringt Bundesrat und Gesundheitsminister Alain Berset (45, SP) schlechte Nachrichten. Denn dann wird er den Prämienzahlern mitteilen, um wie viel die Krankenkassenprämien per 2018 aufschlagen. SonntagsBlick weiss: Die Standardprämien werden durchschnittlich um 3,5 bis fünf Prozent steigen.

Wie hoch der Aufschlag bei den einzelnen Krankenkassen sein wird, hängt davon ab, wie sehr diese bereits die neuesten Anpassungen der Entschädigungen für medizinische Leistungen (Tarmed) berücksichtigen. Ausschlaggebend sind laut Felix Schneuwly (56) vom Vergleichsdienst Comparis auch die Reserven der Kassen: «Einige sind am Limit.» Sie müssen deshalb im kommenden Jahr mehr Prämien einkassieren.

Am Limit sind nicht nur die Kassen, sondern auch die Prämienzahler. Seit Einführung des Krankenversicherungsgesetzes 1996 haben sich die Prämien verdoppelt. Und die Kosten im Gesundheitswesen sind in den letzten Jahren förmlich explodiert: von 68 Milliarden Franken im Jahr 2012 auf knapp 77 Milliarden im Jahr 2015. Bereits im nächsten Jahr dürften es 88 Mil­liarden sein.

Zu über 60 Prozent werden diese Kosten direkt von Herrn und Frau Schweizer bezahlt, über die Krankenkasse und Selbstbeteiligungen – also pro Kopf und unabhängig vom Einkommen. Immer mehr Familien bluten deshalb finanziell aus.

Zu den grössten Kostentreibern im Gesundheitswesen gehören das Personal und die Medikamente. Wurden 2007 noch Medikamente im Wert von 4,4 Milliarden Franken verkauft, waren es zehn Jahre später bereits 5,5 Milliarden. Und in keiner Branche wuchs die Beschäftigung so stark wie im Gesundheitswesen: Trotz Sparbemühungen wie Spitalschliessungen betrug das Beschäftigungswachstum allein in den Spitälern über 40 Prozent. Mehr Pflegende und mehr Sachbearbeiter wurden eingestellt. Aber auch Ärzte: Allein seit 1996 nahm die Zahl der berufstätigen Ärzte schweizweit um ein Drittel zu – von 22718 (1996) auf 36175 im letzten Jahr.

«Du wirst es political correct begründen»

Vor diesem Hintergrund bemüht sich die Politik um Sparmassnahmen – ohne Erfolg. Zuletzt legte der Bundesrat Tarifanpassungen bei den medizinischen Leistungen vor. Auch einzelne Kantone präsentierten in den letzten Wochen ihr Rezept für Einsparungen im Gesundheitsbereich. Nach den Kantonen Luzern und Zürich veröffentlichte diese Woche auch das Wallis eine Liste mit Eingriffen, die in Zukunft nur noch ambulant durchgeführt werden sollen. Zürich erhofft sich mit dieser Massnahme eine Einsparung von zehn Millionen Franken pro Jahr.

Doch diese Bemühungen werden von den Ärzten untergraben. Dies zeigt der E-Mail-Verkehr zwischen einem Facharzt und einem Vertreter des Dachverbandes der Schweizer Gynäkologen. Für die Fachärzte bedeutet die vermehrte ambulante Durchführung von Eingriffen eine finanzielle Einbusse.

Aus dem internen E-Mail-Wechsel, der SonntagsBlick vorliegt, geht hervor, wie sich die Ärzte absprechen: Patientinnen, die einen ambulanten Eingriff von ihrem Gynäkologen machen lassen wollen, sollen von diesem Vorhaben abgebracht werden. Stattdessen wollen die Ärzte die Patientin überzeugen, eine Nacht im Spital zu verbringen. Untereinander reden die Frauenärzte Klartext: «Du wirst der Patientin nicht einfach sagen, der Eingriff müsse im Interesse deiner finanziellen Überlegungen kurzstationär erfolgen, sondern du wirst es political correct mit Qualität, Sicherheit und Risiko-minimierung begründen.»

Überkommene Denkmuster, Geldgier

Ein Standardargument für die steigenden Kosten lautet: Die Lebenserwartung steigt, und je älter wir werden, desto pflegebedürftiger sind wir. Das stimmt so absolut aber keineswegs. «Die steigenden Gesundheitsausgaben im Zusammenhang mit einer höheren Lebensqualität und Lebenserwartung rechtfertigen nur einen Teil der Kostensteigerung», sagt Philip Sommer (33) von der Beratungsfirma PWC. «Der Patient möchte das Maximum – das ist verständlich. Der Arzt hat heute auch wenig Motivation, um eine Untersuchung oder einen Eingriff nicht zu tun.» Das führt zu unnötigen Behandlungen wie der Eisentherapie.

Auch die Akteure im Gesundheitswesen haben ihre Sparvorschläge. Neben einem Abbau des administrativen Aufwands und der Vermeidung von unnötigen Leistungen will auch der Ärztedachverband FMH die Kosten gerechter verteilen und fordert eine einheitliche Finanzierung von stationären und ambulanten Behandlungen, wie Jürg Schlup (62) von der FMH sagt.

Weiter geht der Medizinkritiker Gerd Reuther, 30 Jahre lang selbst als Arzt tätig. Er sagt: «Die Medizin ist lange nicht so gut, wie sie den Anschein erweckt.» Wenn man sich die Fakten anschaue, sehe das ganz anders aus. «Es gibt Studien, die beweisen, dass nur vier Prozent der Behandlungen wirksam sind.» Reuther ist Verfasser des Buches «Der betrogene Patient», das selbst vom deutschen «Ärzteblatt» wohlwollend besprochen wurde. Auf 400 Seiten legt Reuther dar, wie das Patientenwohl regelmässig missachtet wird: durch überkommene Denkmuster, Fehlanreize, schlichte Geldgier und den Einfluss der Pharmaindustrie auf die medizinische Forschung.

Auch unter Schweizer Ärzten mehren sich kritische Stimmen gegen die endlos drehende Kostenspirale. «Die Politik kann in der Regel das Verhalten der einzelnen Player nur wenig beeinflussen», sagt der St. Galler Allgemeinmediziner und Pharmakritiker Etzel Gysling (80). Jeder versuche die bestehenden Vorteile beizubehalten, «auch wenn diese nicht mehr gerechtfertigt sind».

Andererseits müssten die Patienten auch nicht gleich jedes Mal zum Arzt rennen. «Braucht es bei Bagatellen jederzeit Anspruch auf medizinische Soforthilfe?» Letzten Endes sei Gesundheits­prävention die günstigste Möglichkeit, die Gesundheitskosten positiv zu beeinflussen: «Wenn
jeder Einzelne mehr Verantwortung für Präventivmassnahmen über­nähme, liesse sich gewiss sparen.»

Doch das ist nicht so einfach, wie der Gesunheitsexperte Jérôme Cosandey (47) vom Wirtschaftsdachverband Avenir Suisse sagt. «Die Gesundheit bestimmt heute unser Leben stärker als Religion. Mit einem Spital verknüpfen die Leute die Hoffnung auf ewiges Leben.»

Die Ägypter hatten Pyramiden, wir haben die Roche-Türme

Kommentar von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty

Liebe Leserin, lieber Leser

Hand aufs Herz: Möchten Sie bei Ihrer persönlichen Gesundheitsversorgung Abstriche machen? Eben. In der Medizin kommt für jeden von uns nur ein Abstrich in Frage – jener zur Entnahme von Speichel. Und sei es nur eine ordinäre Erkältung, die einen plagt.

Wir alle bestehen ganz selbstverständlich und mit vollem Recht auf einer medizinischen Top-Betreuung. Bloss verwechseln wir Qualität oft mit Quantität. Der Durchschnittspatient erwartet von seinem Arzt, im Minimum eine Schachtel Tabletten verordnet zu bekommen, sonst hält er ihn für inkompetent. Und viele Ärzte entsprechen dieser Erwartung allzu gern. Untersuchungen zeigen, dass jedes dritte Medikament nur auf eine vage Vermutung hin verschrieben wird. Neun von zehn Patienten haben schon unbegründet eine Arznei eingenommen. Und vier von zehn Rentnern schlucken Medikamente, die für ältere Menschen ungeeignet sind.

Wohin das führt? In Basel lässt sich beobachten, dass vielleicht nicht die Bäume der Pharmaindustrie in den Himmel wachsen, wohl aber deren Bauten. Der Roche-Turm ist das höchste Gebäude der Schweiz, der zweite Roche-Tower wird ihn nach seiner Fertigstellung im Jahr 2021 dann noch überragen.

Jede Gesellschaft leistet sich seine eigenen Monumente, zeigt damit in Tonnen von Stein, wo ihr Gott hockt: Das alte Ägypten hatte die Pyramiden, das Mittelalter seine Kathedralen, und die Schweiz von heute huldigt eben der Pharma.

Keine Frage: Der Gott der Pillen kann sensationelle Erfolge verbuchen. In der Krebsbekämpfung etwa und im Bereich der Kardio­logie werden wahre Wunder vollbracht. Den Menschen werden auf diese Weise kostbare Lebensjahre geschenkt.

Die Errungenschaften der Spitzenmedizin dürfen uns im Alltag aber nicht zu abergläubischen Konsumenten aller Arten von Arz­neien machen. 175 Jahre ist es her, da veröffentlichte Jeremias Gotthelf seinen Roman «Wie Anne Bäbi Jowäger haushaltet und wie es ihm mit dem Doktern geht». Das Buch ist eine Abrechnung mit allen Quacksalbern und ein Plädoyer für eine aufgeklärte Medizin. Leider nur ist unser Verhältnis zu den Ärzten auch heute noch wesentlich geprägt vom magischen Denken der armen Anne Bäbi Jowäger.

Die Lektüre von Gotthelfs Roman ist zäh. Dagegen kann es sich lohnen, anstelle des nächsten gleichermassen überteuerten wie letztlich wirkungslosen Grippemittels das noch druckfrische Buch «Der betrogene Patient» zu kaufen. Geschrieben hat es der Radio­loge Gerd Reuther. Schonungslos übt der Mediziner Kritik an seiner Zunft, beschreibt mitunter, wie fehleranfällig die «Schrotschussdiagnostik» vieler Ärzte ist. Das Buch liest sich streckenweise zwar sehr giftig, ist aber keine grundsätzliche Streitschrift gegen die Schulmedizin. Es heilt den Laien lediglich von übertriebenen Erwartungen.

Und natürlich ist es – leider! – so, dass auch der teure Gott der Pillen das ultimative Heils-versprechen jeder Religion nicht wird einlösen können: die Unsterblichkeit.

Kommentar von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty

Liebe Leserin, lieber Leser

Hand aufs Herz: Möchten Sie bei Ihrer persönlichen Gesundheitsversorgung Abstriche machen? Eben. In der Medizin kommt für jeden von uns nur ein Abstrich in Frage – jener zur Entnahme von Speichel. Und sei es nur eine ordinäre Erkältung, die einen plagt.

Wir alle bestehen ganz selbstverständlich und mit vollem Recht auf einer medizinischen Top-Betreuung. Bloss verwechseln wir Qualität oft mit Quantität. Der Durchschnittspatient erwartet von seinem Arzt, im Minimum eine Schachtel Tabletten verordnet zu bekommen, sonst hält er ihn für inkompetent. Und viele Ärzte entsprechen dieser Erwartung allzu gern. Untersuchungen zeigen, dass jedes dritte Medikament nur auf eine vage Vermutung hin verschrieben wird. Neun von zehn Patienten haben schon unbegründet eine Arznei eingenommen. Und vier von zehn Rentnern schlucken Medikamente, die für ältere Menschen ungeeignet sind.

Wohin das führt? In Basel lässt sich beobachten, dass vielleicht nicht die Bäume der Pharmaindustrie in den Himmel wachsen, wohl aber deren Bauten. Der Roche-Turm ist das höchste Gebäude der Schweiz, der zweite Roche-Tower wird ihn nach seiner Fertigstellung im Jahr 2021 dann noch überragen.

Jede Gesellschaft leistet sich seine eigenen Monumente, zeigt damit in Tonnen von Stein, wo ihr Gott hockt: Das alte Ägypten hatte die Pyramiden, das Mittelalter seine Kathedralen, und die Schweiz von heute huldigt eben der Pharma.

Keine Frage: Der Gott der Pillen kann sensationelle Erfolge verbuchen. In der Krebsbekämpfung etwa und im Bereich der Kardio­logie werden wahre Wunder vollbracht. Den Menschen werden auf diese Weise kostbare Lebensjahre geschenkt.

Die Errungenschaften der Spitzenmedizin dürfen uns im Alltag aber nicht zu abergläubischen Konsumenten aller Arten von Arz­neien machen. 175 Jahre ist es her, da veröffentlichte Jeremias Gotthelf seinen Roman «Wie Anne Bäbi Jowäger haushaltet und wie es ihm mit dem Doktern geht». Das Buch ist eine Abrechnung mit allen Quacksalbern und ein Plädoyer für eine aufgeklärte Medizin. Leider nur ist unser Verhältnis zu den Ärzten auch heute noch wesentlich geprägt vom magischen Denken der armen Anne Bäbi Jowäger.

Die Lektüre von Gotthelfs Roman ist zäh. Dagegen kann es sich lohnen, anstelle des nächsten gleichermassen überteuerten wie letztlich wirkungslosen Grippemittels das noch druckfrische Buch «Der betrogene Patient» zu kaufen. Geschrieben hat es der Radio­loge Gerd Reuther. Schonungslos übt der Mediziner Kritik an seiner Zunft, beschreibt mitunter, wie fehleranfällig die «Schrotschussdiagnostik» vieler Ärzte ist. Das Buch liest sich streckenweise zwar sehr giftig, ist aber keine grundsätzliche Streitschrift gegen die Schulmedizin. Es heilt den Laien lediglich von übertriebenen Erwartungen.

Und natürlich ist es – leider! – so, dass auch der teure Gott der Pillen das ultimative Heils-versprechen jeder Religion nicht wird einlösen können: die Unsterblichkeit.

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