Wirtschaftsexperte Werner Vontobel ordnet ein
Wir müssen raus aus dem Mobilitätswahn

Die stetig zunehmende Mobilität kostet auch dann Zeit, Raum, Geld, Nerven und soziales Kapital, wenn sie umweltverträglich gestalten werden könnte, schreibt Werner Vontobel.
Publiziert: 02.09.2019 um 13:06 Uhr
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Aktualisiert: 02.09.2019 um 18:43 Uhr
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Werner Vontobel ordnet für BLICK Themen aus gesellschaftlich-wirtschaftlicher Optik ein.
Foto: Paul Seewer

«Spinnen die?» Ein zufällig in der Schweiz gelandeter Marsmensch würde sich angesichts des permanenten Verkehrsgewusels die Augen reiben: «Bei denen muss etwas schief gelaufen sein. Wie kommen die dazu, ihre Gesellschaft so zu organisieren, dass sie permanent unterwegs sein müssen?»

Nun, man kann es mit ein paar Stichworten erklären.

  • Standortwettbewerb. Die Schweiz bringt mit ihren tiefen Steuern Multis dazu, ihre Hauptquartiere – und jährlich zehntausende Mitarbeiter – in die Schweiz auszulagern. Für diese Leute müssen Wohnungen, Schulen und Infrastruktur gebaut werden. Das dazu nötige billige Personal kommt – dank der Personenfreizügigkeit – aus Süditalien, Polen, Portugal etc. – also von den Verlierern des Standortwettbewerbs.
  • Steuerwettbewerb. Die Reichen ziehen an die guten Standorte und treiben dort mit ihrer Kaufkraft die Immobilienpreise hoch. Der Mittelstand wird von dort verdrängt und muss lange Arbeitswege auf sich nehmen. Die Flexibilität der Arbeitsmärkte erzwingt immer häufigere Arbeits- und Wohnortwechsel. Und weil man sowieso automobil unterwegs ist, erledigt man den Einkauf im Shopping-Center auf der grünen Wiese. Dadurch veröden die Quartiere und Nachbarschaften. Wer es sich leisten kann, kauft eine Zweitwohnung in einem Tourismusgebiet, jettet übers Wochenende nach Mallorca oder vereinsamt zu Hause vor dem Fernseher.

Inzwischen sind die Schweizer im berufstätigen Alter im Schnitt täglich fast zwei Stunden allein im Inland unterwegs. Dazu kommen noch einmal fast zwei Stunden Arbeit, die nötig sind, um die entsprechenden Kosten zu bezahlen. Ein Drittel der Siedlungsfläche wird inzwischen durch Strassen und Schienen belegt und beeinträchtigt, was wiederum bedeutet, dass wir noch weitere Wege fahren und fliegen müssen, um dem öden Siedlungsbrei zu entgehen. Doch weil diese Veränderungen ganz langsam gekommen sind, und weil sich der Mensch an alles gewöhnt, ist aus dem Wahnsinn die neue Normalität geworden.

Wie normal der Wahnsinn heute schon ist, zeigte exemplarisch die «Mobilitätstagung», die das Bundesamt für Raumentwicklung ARE Ende August in Bern durchgeführt hat. Der Anlass stand zwar unter dem Motto «Neudenken der Mobilität» doch neu gedacht wurde nichts. Letztlich drehte sich wieder einmal alles nur um die Frage, wie man den vom ARE auf 25, bzw. 37 Prozent geschätzten Anstieg des Personen- bzw. Güterverkehrs bis 2040 einigermassen umweltschonend und platzsparend bewältigen kann.

Mit der Verkehrslobby legt sich niemand an

«Die Bevölkerung soll sicher und einfach vorwärtskommen», meinte Bundesrätin Simonetta Sommaruga, «das ist heute die Herausforderung.» Zu diesem Zweck hat das Parlament die für den Ausbau nötigen 12,9 Milliarden Franken für die Bahn (bis 2035) und 8,2 Milliarden Franken für die Autobahnen (bis 2023) bereits mit komfortablen Mehrheiten in die Wege geleitet.

Mit der Verkehrslobby legt sich niemand an. Auch keine Bundesrätin von der SP. Dabei hat der Durchschnittsschweizer sein global nachhaltiges Umweltbudget allein mit dem Individualverkehr um das Vierfache überschritten. In Bern wurde zwar immer wieder mal beteuert, dass der «nötige» Ausbau des Verkehrs «klimaschonend» erfolgen soll. Und Sommaruga lobt die «saubere» Elektromobilität. Doch inzwischen ist nicht einmal mehr klar, ob Batterien unter dem Strich weniger «schmutzig» sind als Benzinmotoren.

Wenn wir die Umwelt retten wollen, müssen wir die Mobilität wirklich neu denken und ein paar unangenehme Fragen stellen. Wie sind wir in diesen Teufelskreis hineingeraten? Wie können wir uns von unseren Mobilitätsansprüchen entwöhnen? Und was machen wir mit den vielen Jobs und Lobbyisten, die inzwischen an diesem Wahn hängen? Wir müssen raus aus dem Mobilitätswahn!

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