Wie das St. Galler Rheintal jeder Krise von Neuem trotzt
Eine Randregion erfindet sich immer wieder neu

Die Schweiz kennt viele Randregionen. Für das St. Galler Rheintal hingegen müsste man den Begriff neu erfinden. Am Rand des Kantons St. Gallen liegt im äussersten Nordosten der Schweiz ein schmaler Streifen Land. Eingeschlossen zwischen Alpstein und Bodensee zeigt seine einzige offene Seite in Richtung Österreich.
Publiziert: 19.10.2015 um 18:43 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 23:19 Uhr
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Das St. Galler Rheintal ist eingeklemmt zwischen dem Bodensee, dem Appenzell und Österreich. In der Grafik eingezeichnet sind die grössten Arbeitgeber unter den 5100 Unternehmen.
Foto: KEYSTONE/Alessandro Della Bella
Von Moritz Kaufmann

Man kann kaum glauben, dass dieser Flecken Erde zu den wirtschaftskräftigsten der Schweiz gehört. Laut dem deutschen Institut Contor ist das Rheintal auf Platz 9 von über 1200 in Europa, wenn es um Hochtechno­logiestandorte geht. 90 Prozent der hergestellten Produkte gehen in den Export. 5100 Unternehmen sind in der Region angesiedelt, einige davon sind Weltmarktführer.

«Innovation Valley» – Innovationstal –, sagt Jürgen Dold (52) und lacht. Der CEO von Leica Geosystems meint es ernst. 40 neue Produkte bringt seine Firma aus Heerbrugg jedes Jahr auf den Markt.

Leica Geosystems hiess ursprünglich Wild Heerbrugg und ist eine der traditionsreichsten Firmen des Rheintals. «Heinrich Wild hat hier 1921 mit 17 Thüringern angefangen», erzählt Dold und lacht wieder. Auch heute geht im Tal ohne deutsche und österreichische Grenzgänger nichts. Das war schon so, als um 1900 hier noch die Textilfabriken standen.

Weil Heinrich Wild mit den damaligen Messgeräten unzufrieden war, erfand der Glarner Vermesser halt neue. Das Kapital dafür bekam er von Jacob Schmidheiny, dem Sohn des Begründers der grossen Industriellen-Dynastie Schmid­heiny aus dem Rheintal. «Die Textilindustrie war dem Niedergang geweiht. Schmidheiny wollte hier im Tal Jobs schaffen», erzählt Dold. Noch vor zehn Jahren war seine Firma vom Konkurs bedroht. Heute gehört Leica  Geosystems zur schwedischen Hexagon, macht rund eine Milliarde Franken Umsatz und beschäftigt in der Schweiz gegen 1000 Personen.

Häufig zieht der Föhn durchs Tal, und der macht Kopfweh. Wenn der Föhn dann abklingt, regnet es. Klima und Landschaft formen die Menschen. «Die Rheintaler sind rau und direkt, doch ausser­ordentlich fleissig», schwärmt der St. Galler Finanzdirektor Martin Gehrer (58). Gute Steuerzahler also, das freut den Regierungsrat. Bis vor kurzem jedenfalls. Der Frankenschock lässt die Gewinne schmelzen. Er bereitet den Rheintalern noch mehr Kopfweh als der Föhn.

«Stellen Sie sich vor, Sie treten gegen ein deutsches Qualitätsunternehmen an. Und dann werden die Preise von einem Moment auf den nächsten um 20 Prozent teurer», sagt Heinrich Spoerry (64). Der CEO der Präzisionsteile-Firma SFS führt durch die Produktionshallen in Heerbrugg, ein Steinwurf von Leica entfernt.

Sie sind rund 70'000 Quadratmeter gross. Es hämmert und dampft. Ein Indus­triebetrieb halt. SFS ist eine dieser Firmen, die man nicht kennt, aber mit der man täglich zu tun hat. In Autos, in Rasierapparaten, in Flugzeugen. Wer nach einem iPhone greift, hat rund 150 SFS-Teile in der Hand. Doch der Produktions­standort Schweiz von SFS ist unter Druck. Preiserhöhungen liegen nicht drin. Also muss man effizienter werden. Die Büezer arbeiten zwei Stunden mehr pro Woche und verzichten auf eine Woche Ferien. Die Chefs verzichten auf zehn Prozent des Lohns und fliegen nur noch Economy. Auch Personal wird abgebaut. Nicht im grossen Stil, sondern fliessend. Abgänge werden nicht ersetzt.

«Als wir vor acht Jahren angefangen haben, war der Euro noch 1.60 Franken wert», erzählt Roland Fetting (46). Er ist Mit­inhaber der Firma Swiss Qprint. «Seither ging es nur noch runter.» Swiss Qprint stellt grossformatige Tintenstrahldrucker her. Dreimal vier Meter grosse Bogen können in kürzester Zeit hochpräzis bedruckt werden.

Stückpreis: ab 200'000 Franken. Konkurrenten sind Weltmarken wie HP oder Canon, die zum Teil in China produzieren. Trotzdem sind die Swiss-Qprint-Drucker durch und durch Swiss Made. 94 Prozent der 2200 Maschinenteile kommen aus der Schweiz. Seine Maschinen sind die teuersten auf dem Markt, also müssten sie auch die besten sein, so Fetting.

Das Geheimnis des Rheintals zeigt sich an Swiss Qprint. Das Zusammenspiel funktioniert wie eine gut geölte Maschine. Fetting machte seine Lehre bei Leica. Das Drucker-Know-how eignete er sich bei der Plotter­firma Zünd Cutting Systems an, die ebenfalls im Rheintal be­heimatet ist. Diese hatte das Plottinggeschäft 1994 von Leica übernommen. Als Zünd sein Druckergeschäft aufgeben wollte, machte sich Fetting mit zwei Geschäftspartnern selbständig. Eine Zellteilung, durch die sich die Wirtschaft immer wieder neu erfindet.

Wie auf dem Viscose-Areal in Widnau. Ab 1924 stellte die Société de la Viscose Suisse hier Kunstseide her. Auf dem Höhepunkt 1970 arbeiteten hier 1500 Menschen. Dann ging es bergab – wegen der Billig-Konkurrenz aus dem Ausland. 2005 gingen die letzten Reste der Firma ein. Aber aus den Ruinen der Grossfabrik sind neue Firmen entstanden. Start-ups, Architekturbüros, Geschäfte haben sich auf dem Viscose-­Areal angesiedelt.

Abermals ist die Industrie im Rheintal bedroht. Nicht nur wegen des knochenharten Frankens. Wenn die bilateralen Verträge wegfallen, ist der Zugang zum wichtigsten Markt bedroht: Europa. Jungunternehmer Roland Fetting macht den Politikern deshalb ein Angebot:

«Kümmern Sie sich darum, dass wir in der Welt und in Europa noch Freunde haben. Wir kümmern uns um den Franken.»

Unweit des Viscose-Areals, direkt an der Grenze, steht die Habsburg, die In-Beiz des Rheintals. Sie boomt, obwohl das Bier hier viel teurer ist als nur ein paar Meter weiter in Österreich. Das Gebäude wurde 1910 gebaut – damit die­ ­österreichischen Grenzgänger als erstes ein stattliches Haus sehen, wenn sie in die Schweiz kommen. Heute ist die Habsburg ein beliebter Ort, um ­geschäftliche Angelegenheiten zu besprechen. Sie ist aber auch Café, Bar, Restaurant sowie Club und hat sieben Tage die Woche geöffnet. Ein Knochenjob? Chefin Mägi Siebert (48) zuckt mit den Schultern. Der starke Franken?

«Im Sommer haben wir nichts gemerkt. Jetzt ein bisschen», sagt sie lapidar. Jammern, es liegt nicht in der DNS des Rheintalers.

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