Wie Apps die Medizin revolutionieren
Das Smartphone wird zum Doktor

Healthtech-Apps und Gadgets vermessen Patienten. Im Idealfall retten sie leben. Firmen wie Apple steigen in den Markt ein. Doch es gibt Hürden für Hersteller und Nutzer.
Publiziert: 14.01.2019 um 14:15 Uhr
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Aktualisiert: 14.01.2019 um 15:35 Uhr
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Apps und Gadgets verhelfen zu besserer Fitness. Immer häufiger haben sie auch medizinische Funktionen.
Foto: Prisma Bildagentur
Karen Merkel («Handelszeitung»)

Die rote Herzstromlinie pulsiert über das quadratische Display am Handgelenk. Der Countdown läuft: zwei, eins, null. Für 30 Sekunden misst die Apple Watch den Herzschlag ihres Trägers und protokolliert das EKG. Dann ein Ergebnis. Wenn es schlecht läuft: Vorhofflimmern. Das ist die häufigste Herzrhythmusstörung.

Selten wird sie frühzeitig diagnostiziert. Allein in der Schweiz sind mehr als 80'000 Menschen davon betroffen. Vorhofflimmern selbst ist selten gefährlich, kann aber schwere Folgen nach sich ziehen, etwa einen Hirnschlag. Die Apple Watch will Nutzern mit der EKG-Funktion die Chance geben, einen unregelmässigen Herzrhythmus zu bemerken und zum Arzt zu gehen, bevor Schlimmeres passiert.

Grosses Wachstum erwartet

Eine Smartwatch warnt vor möglichen Krankheitssymptomen – damit hat Apple im Herbst Neuland betreten. Die Apple Watch wurde vom Fitnesstracker zum Medtech-Gerät. Konzernchef Tim Cook sagte kürzlich in einem Interview mit CNBC, er erwarte, dass Apples grösster Beitrag zur Menschheitsgeschichte im medizinischen Bereich liegen werde. Derzeit jedenfalls dringt der iPhone-Hersteller in einen Bereich vor, auf den sich viele Begehrlichkeiten richten: schlaue Uhren, Smartphones und Fitnesstracker verheissen, per Datentracking Volksleiden besser zu protokollieren oder sie sogar zu diagnostizieren.

Für die Nutzer heisst das, sie können Risiken unkompliziert über die Geräte erkennen, die ihnen vertraut sind. Für die Hersteller steckt dahinter Blockbuster-Poten­zial. Datendienstleister Statista erwartet bis 2020 eine Steigerung auf gut 200 Milliarden Dollar Jahresumsatz im Healthtech-Bereich. Das entspräche einer Verdoppelung innert vier Jahren.

Disruption durch Tech-Konzerne

Wenig erstaunlich also, dass Gesundheitsanwendungen für Hersteller von Smartphones und Smartwatches interessant sind. Und sie bringen die notwendigen finanziellen Ressourcen mit. «Ich rechne damit, dass ein grosses Tech-Unternehmen in zwei bis fünf Jahren disruptiv in den Healthtech-Sektor vordringt», sagt Bernd Maisenhölder, Marketing­leiter bei Iftest. Das Unternehmen mit Standort in Wettingen AG liefert Smartwatch-Elektronik für renommierte Schweizer Brands und grosse ausländische Hersteller. Er ist überzeugt: «Pharmafirmen müssen ein Stück weit den Druck der Tech-Firmen fürchten.»

Im Fokus der Anbieter stehen weitverbreitete Gebrechen wie Herzkreislauferkrankungen und Stoffwechselleiden wie Diabetes. Auch das Zyklus­tracking ist ein Bereich, der boomt, wie der Erfolg des smarten Armbandes von Ava Women zeigt; ebenso die Entwicklung smarter Hörhilfen. Lifestyle-Anwendungen und Medizinprodukte liegen hier oft nah bei­einander. Das Schweizer Startup Biovotion zum Beispiel bietet sein «Spital am Oberarm», einen Herzrhythmus-Tracker, in zwei Varianten an: als Fitnessversion und als zertifiziertes Medizinprodukt. Das Unternehmen, so heisst es in der Selbstbeschreibung, will den «Gesundheitssektor auf den Endverbraucher ausrichten».

Auch die Grossen mischen mit

Auch Pharmariesen wie Roche und Novartis ­haben die Entwicklung von Healthtech-Gadgets auf der Agenda. Novartis baut ein Startup-Zentrum namens Biome in San Francisco auf. «Man spürt, dass grosse Veränderungen auf uns zukommen», sagte Novartis-Digitalchef Betrand Dodson kürzlich in ­einem Interview mit der «Handelszeitung». «Daten, Forschung und Technologie finden zueinander.»

Roche investiert kräftig in die Digitalisierung, etwa mit dem Milliardenzukauf von Datenspezialist Flatiron, der digitale Patientenakten für Krebskranke entwickelt hat. Im Fokusgeschäft Onkologie spielt auch die Software-Entwicklung eine wichtige Rolle. Im Herbst präsentierte das Unternehmen das cloudbasierte Tumor-Board Navify. Mit dessen Hilfe können Ärzte umfangreiche Daten von Krebserkrankungen sondieren und auswerten, um für Patientinnen und Patienten die wirksamste Behandlung herauszufiltern.

Apps im Portfolio von Roche

Roche geht auch den Schritt auf das Handy und die Smartwatch. Das Unternehmen arbeitet mit Floodlight für Multiple-Sklerose-Patienten und einer ähnlichen Lösung für Parkinson an zwei Apps, die bei neurologischen Krankheiten helfen sollen. Beide Anwendungen befinden sich im Teststadium, sind ­damit erst für ausgewählte Patienten auf wenigen Android-Smartphones verfügbar. Die Apps richten sich nicht direkt an den Patienten, sondern werden über das medizinische Fachpersonal vermittelt. Dennoch wäre für Roche interessant, durch Zusammenarbeit etwa mit Samsung und Apple die Verbreitung und die Möglichkeiten der Datenanalyse deutlich auszuweiten.

Egal, wer der Anbieter eines Gadgets oder einer App ist, für alle Hersteller in Europa gilt: Sobald sie das Versprechen eines medizinischen Nutzens ­abgeben, zählt ihr Gerät als Medizinprodukt und muss entsprechend von einer sogenannten Benannten Stelle zertifiziert werden. Hinter ­dieser lapidaren Wahrheit verbergen sich die wahren Pro­bleme für den Healthtech-Boom in Europa. Das belegt das Beispiel Apple Watch: Die EKG-Funktion ist in den USA durch die Aufsichtsbehörde Food and Drug Administration (FDA) als Medizinprodukt der Klasse II – mit moderatem Risiko – genehmigt. In der Schweiz und in Europa ist die Funktion aber noch nicht zertifiziert.

Hier zeigt sich ein grundlegender Unterschied: Die US-Aufsichtsbehörde FDA möchte Tech-Konzerne unterstützen, wenn sie Gesundheitsfunktionen lancieren. In Europa und der Schweiz dagegen verschärft sich gerade die Regulierung mit der Einführung der neuen Medizinprodukteverordnung (MDR), die ab Mai 2020 verbindlich für alle Anbieter gilt. Zur Lancierung der Apple Watch schrieb die FDA im September 2018: «Wir erleben, wie die Gesundheitsfürsorge neu erfunden wird.» Dank mobilen Technologien bekämen Nutzer mehr Kontrolle über ihre Gesundheitsdaten denn je zuvor – und könnten besser informiert Entscheidungen treffen. Diese Möglichkeiten würden von Firmen unterstützt, die neu im Pharmasektor seien «und noch nicht daran gewöhnt sein mögen, mit den ­regulatorischen Anforderungen umzugehen». Apple sei hier das beste Beispiel. Diese Neuerungen erforderten flexible Lösungen.

Regulatoren in der Schweiz und den USA gehen getrennte Wege

In der Schweiz und Europa dagegen gilt ab kommendem Jahr die Verordnung, die gerade Software und Apps strenger zertifiziert als bisher. «Mit der MDR fallen viele Medizinprodukteneu in eine ­höhere Risikoklasse, die eine CE-Zertifizierung mit Beteiligung einer Benannten Stelle notwendig macht», sagt Daniel Taddeo, Mitglied der erweiterten Geschäftsleitung von SQS. Die Schweizerische Vereinigung für Qualität- und Managementsys­teme ist eine von zwei Benannten Stellen in der Schweiz, die Medizinprodukte zertifiziert.

Die erhöhte Risikoklasse bedeutet: Bisher konnten sich viele Medizinprodukte als Produkt der Klasse I einsortieren. Es war damit nicht nötig, dass eine ­Benannte Stelle das Gerät oder die Software zerti­fizierte. Jetzt ändert sich das – was für Hersteller einen langwierigen Prozess bedeutet, der im günstigen Fall Monate, im schlechtesten Fall mehrere Jahre dauern kann.

Weniger Prüfstellen

Viele Branchenstimmen warnen davor, dass die erneuerte MDR Innovation ausbremse. Hier be­stehe ein Spannungsfeld, sagt Karin Schulze. «Zum einen existiert ein Wettbewerb zwischen den Standorten. Europa und die Schweiz möchten für Pharma- und Healthtech-Firmen attraktiv bleiben, also auch nicht zu viele bürokratische Hürden errichten. Anderseits liegt es in der Verantwortung der Regulatoren und zuständigen Behörden der ­jeweiligen Standorte, die Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit der Produkte zu gewährleisten.» ­Karin Schulze leitet den Bereich Regulatory Affairs und Medical Devices bei SFL. Die Agentur unterstützt Pharma- und Medtech-Firmen im Genehmigungsprozess von Medizinprodukten.

Ein weiterer Faktor wirkt sich negativ aus: Ausgerechnet jetzt, wo absehbar wird, dass künftig deutlich mehr Produkte ein CE-Zertifikat benötigen, verschwinden viele Prüfstellen. «Die Zahl der Benannten Stellen schrumpft, weil die Anforderungen zunehmend steigen und das Geschäft weniger lukrativ wird», sagt Daniel Taddeo. Dazu komme, dass die Zeit für die Umsetzung der MDR äusserst knapp sei: «In ganz Europa ist noch keine Benannte Stelle eingesetzt, die nach MDR zertifizieren darf.»

Damoklesschwert über Schweizer Medtech-Herstellern

Auf der positiven Seite steht, dass Patienten und Verbraucher darauf vertrauen können, dass Medizinprodukte mit CE-Zertifikat in der Schweiz und Europa dem aktuellen technologischen Standard genügen und dass ihre medizinische Wirksamkeit nachgewiesen ist. Grosskonzerne wie Apple dürften die Kosten, die mit der langwierigen Prüfung verbunden sind, auch nicht schrecken. Der iPhone-Hersteller gab vergangenen Herbst bereits zu Protokoll, dass die EKG-Funktion auch auf Märkten ausserhalb der USA ausgerollt werden solle. Es heisst, ein Zeitrahmen sei noch nicht ­absehbar.

Schwerer wird es für Startups und kleinere Medtech-Firmen mit begrenzten finanziellen Ressourcen. Zahlreiche Branchenverbände in der Schweiz und in Europa fordern, die Umsetzung der MDR für diese machbar zu halten. Ein weiteres Damoklesschwert zittert über den Medtech-Herstellern in der Schweiz: Nach Staatsverträgen gilt der freie Handel über die Ländergrenzen für Medizinprodukte, die in der EU, den Efta-Staaten oder der Schweizzertifiziert wurden. Scheitern die bilate­ralen Verträge, wäre es damit vorbei. Für Daniel Taddeo ein Schreckensbild. Er sagt: «Das wäre fatal.»

Artikel aus der «Handelszeitung»

Dieser Artikel wurde in der «Handelszeitung» veröffentlicht. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.handelszeitung.ch.

Dieser Artikel wurde in der «Handelszeitung» veröffentlicht. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.handelszeitung.ch.

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