Wenn man Mario Irminger zuhört, bekommt man den Eindruck, die Schweiz sei kollektiv am Verarmen. «Wir rechnen damit, dass die durchschnittliche Kaufkraft sinken wird», sagt der Migros-Chef über die Trends, an denen er den orangen Riesen ausrichten will. Ein Grund seien die vielen Baby-Boomer, die jetzt pensioniert werden. «Wenn die Menschen in Rente gehen, sinkt ihre Kaufkraft um rund 30 Prozent im Vergleich zum letzten Lohn, den sie bezogen haben», orakelt Irminger im Interview mit der «Sonntagszeitung».
Das Klagen über den Kaufkraftschwund ist sonst eher Sache der Gewerkschaften, um einen Inflationsausgleich bei den Löhnen zu fordern.
Aber steht es wirklich so schlimm um unsere Kaufkraft? Werden wir im Schnitt immer ärmer und können uns weniger leisten als früher? Und wie wirkt sich die Pensionierung der geburtenstarken Jahrgänge auf die durchschnittliche Kaufkraft im Land aus?
Steigen die Preise viel stärker als die Löhne?
Beginnen wir mit der pauschalen Aussage, dass die Kaufkraft sinke. Dazu Irminger im Wortlaut: «Während die Löhne im Schnitt nur leicht nach oben gehen, steigen die Fixkosten viel stärker – etwa wegen explodierender Gesundheitskosten, hoher Miet- und Energiekosten.»
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Am einfachsten überprüfen lässt sich diese Aussage mit den Reallöhnen. Steigen die Löhne langsamer als die Inflation, dann sinken die Löhne real, und die Leute können sich trotz Lohnerhöhung weniger leisten. Die Frage ist aber, auf welchen Zeitraum sich die Aussage bezieht. Sind die letzten zwanzig Jahre gemeint, oder nur die letzten drei? Oder das laufende Jahr und die kommenden?
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Check 1: Kurzfristig
In den letzten drei Jahren sind die Löhne langsamer gestiegen als das allgemeine Preisniveau. Real haben die Durchschnittsschweizer weniger verdient.
Besonders hart war 2022: Trotz grösserer Lohntüte nahm die Kaufkraft wegen der hohen Inflation 2 Prozent ab.
Fazit: Hier trifft Irminger ins Schwarze. Die Kaufkraft hat in den letzten drei Jahren gelitten.
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Check 2: Langfristig
Über längere Sicht sind die Löhne aber gleich schnell oder gar schneller gestiegen als die Konsumentenpreise. So sieht die Entwicklung ab 1993 aus.
Die günstige Entwicklung nimmt um die Jahrtausendwende Fahrt auf. Seit 2001 gerechnet, sind die Löhne um insgesamt 12 Prozent stärker gestiegen als die Preise – ein massiver Kaufkraftgewinn, kein Kaufkraftverlust.
Fazit: Hier liegt Irminger daneben. Langfristig hat die Kaufkraft zugenommen.
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Check 3: Kaufkraft sinkt weiter
Wie sich die Reallöhne und damit die Kaufkraft der Beschäftigten in den kommenden Jahren entwickeln werden, hängt massgeblich von der Inflation ab. Denn die Löhne schwanken weniger stark. Die nominale Lohnsteigerung dürfte dieses Jahr wieder über 1 Prozent liegen. Die KOF-Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich erwartet gar einen Anstieg von 1,8 Prozent. Bleibt die Inflation auf das Jahr gerechnet bei den heutigen 1,4 Prozent, würde die Kaufkraft um 0,4 Prozent zunehmen.
Irmingers pauschale Aussage, dass die Kosten schneller steigen als die Löhne, trifft also nur für die letzten drei Jahre zu. Nicht aber auf die lange Frist. Fürs laufende Jahr, sieht es besser aus für die Kaufkraft. Und was die Zukunft bringt, wird sich weisen.
Fazit: Für dieses Jahr passen Irmingers Aussagen nicht. Auch in Zukunft ist der Kaufkraftschwund alles andere als sicher.
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Check 4: Steigende Gesundheitskosten belasten Budgets
Aber halt: Diese Kaufkraftschätzungen basieren alle auf der Inflation, gemessen am Landesindex der Konsumentenpreise LIK. Und dort sind die Krankenkassenprämien nicht enthalten, nur die Preise für Medikamente und Gesundheitsleistungen. Doch auch die Krankenkassenprämien belasten das Budget, wodurch weniger übrig bleibt für sonstigen Konsum.
Die durchschnittliche Prämie für die obligatorische Krankenversicherung hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten verdoppelt. Zwischen 1996 und 2022 ist sie von 128 auf 314 Franken pro Monat gestiegen. Etwa 7 Prozent des Bruttoeinkommens geht im Schnitt für die Krankenkassenprämien drauf, entsprechend gross müsste das Gewicht im Warenkorb sein, wenn man sie in der Inflationsberechnung mitberücksichtigen würde. Und wenn man dies tut, ergibt sich ein anderes Bild, das eher jenem von Irminger entspricht:
Der Ökonom Fabio Canetg hat den Effekt beziffert: Trotz Lohnerhöhungen hat demnach ein durchschnittlicher Schweizer Haushalt wegen der Krankenkassenprämien zwischen 2001 und 2023 einen Kaufkraftverlust von insgesamt 6,1 Prozent erlitten.
Fazit: So betrachtet hat Irminger recht, wenn er die Kaufkraft «wegen der explodierenden Gesundheitskosten» schwinden sieht.
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Check 5: Fixkosten steigen stärker wegen hohen Energiepreisen und Mieten
Irminger nennt als Gründe der steigenden Fixkosten neben den Gesundheitsausgaben auch die hohen Miet- und Energiekosten. Als Argument für die These der Kaufkraftkrise taugen sie aber nicht.
Denn Mieten und Energiepreise sind erstens bereits im LIK und damit in den Reallöhnen enthalten, und zweitens nagen sie kaum mehr an der Kaufkraft. Denn seit dem Energiepreisschock von 2022 hat sich vieles normalisiert.
Ein Liter Bleifrei kostet im Schnitt nicht mehr über 2.20 sondern weniger als 1.90 Franken, eine kleine Tankladung Heizöl gibt es für 120 Franken pro 100 Liter statt 170 Franken wie in der Spitze 2022. Auch die Gaspreise sinken seit einem Jahr, auch wenn sie immer noch 60 Prozent über dem Niveau von 2021 liegen. Die Stromtarife wurden mit etwas Verzögerung zweimal massiv nach oben angepasst und sind nun 50 Prozent höher als vor der Energiekrise. Sofern ein weiterer externer Schock ausbleibt, ist nicht davon auszugehen, dass nächstes Jahr die Tarife nochmals stark angehoben werden.
Auch bei den Mieten ist der grösste Schub womöglich schon vorbei. Sie wurden wegen des höheren Referenzzinssatzes zwar angehoben und haben viel zur Inflation beigetragen. Aber mit der Leitzinssenkung der SNB dürfte auch der Referenzzins nicht mehr steigen und der Druck auf die Mieten, zumindest die Bestandesmieten, etwas nachlassen.
Fazit: Mieten und Energiekosten sind nicht mehr der grosse Kaufkraftkiller. Irmingers Einschätzung ist diesbezüglich nicht nachvollziehbar.
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Check 6: Nach Pensionierung sinkt Einkommen um 30 Prozent
Der zweite Punkt, den Irminger anspricht, hat mit der demografischen Entwicklung zu tun und der vermuteten Einkommensklippe bei der Pensionierung.
So sagt Irminger, dass die Kaufkraft der Schweizer und Schweizerinnen insgesamt nachlasse, weil die geburtenstarken Jahrgänge in Pension gehen und ihr Einkommen um rund 30 Prozent einbricht. Ist diese Zahl plausibel?
Gemäss den Vorsorge-Prospekten der Banken und Versicherern decken die gesetzlichen Leistungen aus AHV und der Pensionskasse meist nur rund 60 Prozent des letzten Lohnes. Mit der dritten Säule kommen wohl viele Pensionäre auf 75 bis 80 Prozent.
Das deckt sich etwa mit der Haushaltsbudgeterhebung (Habe) des BFS. Demnach erzielt die Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen im Schnitt ein verfügbares Jahreseinkommen von 58'700 Franken. Das Medianeinkommen der Gruppe 65+ beträgt nur noch 44'000 Franken. Ein Minus von 25 Prozent. Mit der 13. AHV-Rente wird sich die Lücke nochmals etwas verkleinern.
Doch die Einkommensperspektive greift zu kurz. Die Rentnerinnen und Rentner können schliesslich auch ihr Vermögen anzapfen. Eine Auswertung des Genfer Demografie-Professors Philippe Wanner zeigt, dass Haushalte mit Pensionierten ein sechsmal höheres Nettovermögen haben als Haushalte mit Personen im Erwerbsalter. Dabei spielen Immobilien eine wichtige Rolle. Die Mehrheit besitzt ein Eigenheim und ist damit von den steigenden Mieten nicht betroffen.
Auch von einer Verschlechterung der Situation der Neurentner und Neurentnerinnen kann keine Rede sein. Eben wurde die 13. AHV-Rente angenommen. Auch in den letzten Jahren gab es bei der AHV keinen realen Leistungsabbau: Zwischen 2000 und 2023 ist die AHV-Altersrente (Minimalrente bei voller Beitragsdauer) im jährlichen Durchschnitt um 0,9 Prozent gewachsen. Die jährliche Teuerung betrug nur 0,6 Prozent.
Und auch die zweite Säule steht besser da als ihr Ruf, wie eine Recherche der «Handelszeitung» aufzeigt und von Experten bestätigt wurde. Die Neurenten sind zwar gesunken, dies aber vor allem deshalb, weil viele Rentner und Rentnerinnen das Kapital beziehen. «Rechnet man die Kapitalbezüge mit ein und verrentet diese, kommt man ziemlich genau auf einen Leistungserhalt», sagt Lukas Müller-Brunner, Direktor des Pensionskassenverbands Asip.
Fazit: Unter der Strich hält die Aussage zur Einkommens-Klippe der Prüfung nicht stand.
Gesamtfazit: Irminger übertreibt, aber die Strategie kann funktionieren
Irmingers Makro-Thesen halten dem Realitätscheck nur in zwei von sechs Punkten stand.
Die Gesundheitskosten belasten das Budget und während der Inflationsjahre 2021 bis 2023 sind die Reallöhne gesunken. Aber so schlecht steht es um die Schweizer Kaufkraft nicht, sowohl langfristig als auch in Zukunft. Berücksichtigt man die Vermögen, die Kapitaleinkommen und die Rentenansprüche der Altersgruppe, die jetzt in Pension geht, dann ist von dieser Seite nicht mit einem bedeutenden Kaufkraftschwund zu rechnen.
Viele Unternehmen sehen diese goldene Generation der jetzigen Rentnerinnen und Rentner eher als Chance: Immer mehr ältere Kundschaft mit mehr Kaufkraft, lautet der Tenor.
Das heisst aber nicht, dass die Migros-Strategie mit günstigen Eigenmarken automatisch zum Scheitern verurteilt ist. Gerade auch die Vermögenden neigen manchmal zu Sparsamkeit oder gar Geiz.