Die SonntagsBlick-Titelzeile: «IV schickt Kranke ins Elend», vom August 2019 hatte ihren Grund: Während die Zahl der IV-Bezüger zwischen 2005 und 2018 um rund 34000 abgenommen hatte, stieg jene der Sozialhilfeempfänger um 41000 an.
Ärzte, Anwälte und Sozialpolitiker beteuerten zu jener Zeit, viele ehemalige IV-Rentner seien auf den Sozialämtern gelandet – die Invalidenversicherung saniere ihre Bilanzen auf Kosten der Sozialhilfe.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) allerdings stritt dies ab. Die geringere Zahl der IV-Rentner sei darauf zurückzuführen, dass die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt besser gelinge als früher. Dass sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger gegenläufig entwickle, sage nichts über einen kausalen Zusammenhang aus.
Der Bund lag mit seiner Einschätzung daneben
Diese Woche nun wurde eine Studie veröffentlicht, die belegt, dass der Bund mit dieser Einschätzung danebenlag. Die Untersuchung des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) im Auftrag des BSV stellt fest: «Die Zahl der bei der IV neu angemeldeten Personen, die vier Jahre nach Anmeldung Sozialhilfe beziehen, hat zwischen 2006 und 2013 sowohl relativ als auch absolut zugenommen.»
Dieser Anstieg sei weder mit der Zusammensetzung der IV-Anmeldungen noch mit der Entwicklung der kantonalen Arbeitslosenquote erklärbar. Also doch: Die IV hat sich auf Kosten der Sozialhilfe saniert – zumindest teilweise.
Im Gegensatz zu den staatlichen IV-Renten belastet die Sozialhilfe das Budget von Städten und Gemeinden. Die nehmen daher das neue Untersuchungsergebnis mit grossem Interesse auf: «Wir haben immer gesagt, dass eine IV-Revision nicht auf Kosten der Sozialhilfe passieren darf. Die aktuellen Studienergebnisse zeigen nun ebendies auf – und das ist keine gute Entwicklung», so Christoph Niederberger, Direktor des Schweizerischen Gemeindeverbands (SGV).
Verlagerung in die Sozialhilfe unbedingt vermeiden
In der aktuell schwierigen Lage auf dem Arbeitsmarkt und angesichts des zu erwartenden Anstiegs der Sozialhilfekosten durch die Corona-Pandemie seien weitere Verlagerungen von der IV in die Sozialhilfe unbedingt zu vermeiden. «Gegen diese Tendenz muss nun von behördlicher Seite als Erstes auf Ebene Vollzug möglichst Gegensteuer gegeben werden. Nützt dies nichts, dann muss in einem nächsten Schritt die Politik einschreiten», fordert Niederberger.
Die Städte sehen das genauso: Raphael Golta zum Beispiel, Sozialvorsteher der Stadt Zürich, fordert von der IV anzuerkennen, dass sich ein Teil ihrer Bezügerinnen und Bezüger nicht mehr in den Arbeitsmarkt eingliedern lasse.
«Dieses Risiko muss die IV selber tragen. Sie darf die Verantwortung für die Betroffenen nicht auf die Sozialhilfe abwälzen», so Golta. Zudem müsse die IV einen grösseren Teil der heute nicht mehr arbeitsfähigen Sozialhilfebeziehenden wieder übernehmen.
Beim BSV stossen diese Forderungen auf taube Ohren. «Eine grosszügigere Ausgestaltung der Anspruchsbedingungen in der IV müsste politisch entschieden, vom Parlament verabschiedet und allenfalls in einer Volksabstimmung bestätigt werden», teilt ein Sprecher mit.
Behörde sieht kaum Handlungsbedarf
Die Behörde sieht ohnehin kaum Handlungsbedarf: «Der Forschungsbericht zeigt, dass die Fokussierung der Invalidenversicherung auf die Eingliederung von Menschen mit gesundheitlicher Erwerbseinschränkung klar erfolgreich ist.» Die Zahl Betroffener, die mit Unterstützung der IV nach den Eingliederungsmassnahmen ein existenzsicherndes Einkommen erzielten, ohne eine Rente zu benötigen, sei mit den letzten Revisionen deutlich angestiegen.
Um das Abrutschen von der IV in die Sozialhilfe künftig zu verhindern, so das BSV, sollten die Unterstützungs- und Eingliederungsangebote in Zukunft deshalb «noch besser ausgestaltetund gezielter eingesetzt» werden. Nicolas Galladé, Sozialvorsteher von Winterthur ZH und Präsident der Städteinitiative Sozialpolitik, hält davon wenig. Zwar spreche nichts gegen gezieltere Eingliederungsmassnahmen. Die Studie belege aber eben auch, dass eine existenzsichernde Erwerbsarbeit für viele Betroffene «illusorisch» sei.
«Die Reaktion des BSV zeigt einen verengten Blick auf die IV statt auf das Gesamtsystem der sozialen Sicherung», so Galladé. Statt der weiteren Optimierung von Eingliederungsmassnahmen, die häufig nichts bringen, wäre eine IV-Rente in vielen Fällen ehrlicher, effizienter und menschenwürdiger.