Ich nehme zum 19. Mal am WEF teil und habe eine einfache Formel entdeckt: Je besser die Zeiten, desto wolkiger die Inhalte – und desto rauschender die Partys. Es gab die abgehobenen WEFs der goldenen Jahre, bescheidenere während des Irak-Krieges oder der Finanzkrise.
So nüchtern jedoch, wie sich das bevorstehende Treffen der globalen Führungs- und Wirtschaftselite in Davos präsentiert, war noch keines zuvor. Noch nie kamen so viele Krisen aufs Mal zusammen: Ukraine-Krieg, Globalisierungskrise, Inflation, Klimawandel, eine drohende Hungerkatastrophe, Corona-Nachwehen, Ungleichheit, Polarisierung und, und, und.
«Die Welt steht an einem Wendepunkt der Geschichte», sagt WEF-Gründer Klaus Schwab (84) – und er muss es wissen: Kein Mensch auf der Welt ist seit mehr als 50 Jahren so nah am Lauf der Geschichte und so nah an allen globalen Entscheidungsträgern dran.
Krisen gab es schon immer. Doch die brandaktuellen sind schwerer, vielfältiger – und globaler.
Die Politökonomin Maja Göpel (45) bringt im grossen WEF-Auftakt-Interview im SonntagsBlick auf den Punkt, was jetzt zu tun ist: «Wir müssen uns damit beschäftigen, unter welchen Bedingungen Menschen sicher, gut und friedlich zusammen existieren können.»
Es ist der richtige Leitfaden für die Mächtigen dieser Welt, die sich in Davos treffen – am ernsthaftesten WEF der Geschichte.
Das Blick-Team über die grossen Herausforderungen der Zeit
1. Die Wirtschaft strauchelt
Seit Corona sind die fragilen Lieferketten rund um den Globus strapaziert, teilweise gar zerrissen. Denn in China stauen sich die Containerschiffe, es fehlen im Lockdown die Arbeitskräfte, um die Ozeanriesen zu be- und entladen. Die Folge: Der Nachschub an Gütern und Komponenten sowie Mikrochips aus Asien stockt. Das behindert die Produktion in Europa und den USA.
Der Mangel lässt die Preise steigen, auch weil Energie wegen des Krieges in der Ukraine immer teurer wird. Die Tankfüllung ist in vielen Ländern ein Luxusgut. Die Notenbanken müssen im Kampf gegen die Inflation die Zinsen erhöhen, die Zeiten billigen Geldes sind vorbei. Das lähmt das Wirtschaftswachstum und stürzt die Börsen ins Elend.
Es droht eine globale Rezession. Eine Wirtschaftskrise, die auch die Schweiz hart treffen würde.
2. Die Erde brennt
Corona und der Krieg haben die Klimakrise aus den Schlagzeilen verdrängt. Dabei verbrennt in Indien gerade ein halber Kontinent, steigen die Temperaturen in lebensbedrohliche Höhen. Weltweit durchleben Millionen Menschen bereits, was uns noch bevorstehen könnte.
Die Zeit der Ausreden ist vorbei, der Ausstieg aus dem russischen Öl und Gas bietet die Gelegenheit, die Energieversorgung neu zu denken. Die wichtigsten Staats- und Regierungschefs schicken in diesem Jahr darum alle ihre Klima-Experten nach Davos: US-Sonderbeauftragter John Kerry (78), der deutsche Vizekanzler und Klimaschutz-Minister Robert Habeck (52), Chinas Klima-Chefdiplomat Xie Zhenhua (72).
Europa und die Schweiz müssen mit gutem Beispiel vorangehen und nicht mit dem Finger auf die grossen CO2-Schleudern China, USA und Indien zeigen. Nutzen wir die Chance, es könnte eine der letzten sein.
Christian Kolbe (55), Wirtschaftsredaktor, muss jedes Jahr seinen Kollegen im Unterland erklären, dass das WEF fürs globale Image der Schweiz unbezahlbar ist.
3. Ukraine – unser aller Krieg
Vor drei Monaten ist Putin in die Ukraine einmarschiert. Seither scheint die Welt eine andere. Grüne Aussenministerinnen beschaffen Waffen, liberale Finanzminister geben Gelder frei – und die Schweiz ringt mit ihrer Neutralität.
Die dramatische Wende in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas und die globalen Auswirkungen des Krieges auf Energie- und Lebensmittelversorgung dominieren das WEF. Russland selbst ist ausgeladen. Die ukrainische Delegation kommt dafür umso zahlreicher – Selenski virtuell, die Klitschko-Brüder und Abgeordnete persönlich. Sie werden in Davos sicherstellen, dass die Welt ihren und unseren Krieg nicht vergisst.
Der Krieg wird uns alle noch Jahre beschäftigen. Und immer wieder herausfordern zu verhandeln, welchen Preis wir bereit sind zu zahlen, um unseren westlichen Lebensstil zu bewahren und zu verteidigen.
Auslandsredaktorin Fabienne Kinzelmann (29) freut sich besonders auf ein Interview mit dem neuen US-Botschafter in der Schweiz.
4. Die Welt hungert
Schon vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs haben 276 Millionen Menschen unter akutem Hunger gelitten, schätzt die Uno. Die Zahl ist in den vergangenen Jahren gestiegen – und der Krieg droht die Hungerkrise jetzt noch einmal dramatisch zu verschärfen.
Denn 12 von 100 Kalorien, die täglich verzehrt werden, wurden bislang in der Ukraine oder Russland produziert. Exporte, die nun ausfallen. Laut der Uno könnte wegen des Kriegs die Zahl der Hungernden um knapp 50 Millionen steigen.
Aber auch bei uns und in unseren Nachbarländern sind die Folgen deutlich zu spüren – in Form leerer Regale und happiger Preisaufschläge. Das stärkt das Problembewusstsein bei der Wirtschafts- und Politelite, die sich in Davos trifft. Weshalb auch diese Krise am WEF ein wichtiges Thema sein wird.
Politik-Journalistin Lea Hartmann (31) heftet sich in Davos an die Fersen der Bundesrätinnen und Bundesräte.
5. Die globale Ungleichheit steigt
2022 predigt Fortschritt. Lebt aber Rückschritt.
In Amerika gehen dieser Tage Zehntausende auf die Strasse, um für Abtreibungsrechte zu demonstrieren. In der Ukraine vergewaltigen Soldaten Frauen. Und laut dem aktuellen Gender-Report des WEF braucht es neu noch 136 Jahre, um die Gleichberechtigungslücke zu schliessen. Dabei ist die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern eines der grössten Hindernisse für nachhaltige Entwicklung, ökonomisches Wachstum und Armutsreduktion.
In Davos wird unter anderem die EqualVoice-Initiative von Ringier das Augenmerk auf das Thema Geschlechtergleichheit legen. Das WEF selbst hat vier Panels zur globalen Ungleichheit im Programm. Wohlstand, Bildung oder Impfstoffzugang dürften eigentlich längst nicht mehr davon abhängen, wo jemand geboren ist, mit welcher Hautfarbe – oder welchem Geschlecht.
Blick-TV-Reporter Matthias Kempf (36) wird in den Gassen von Davos viele spannende Persönlichkeiten vor der Kamera interviewen.
6. Corona ist noch nicht vorbei
Die Pandemie gibt den Takt vor, nicht wir Menschen. Das musste auch das WEF im Januar wieder feststellen und verschob das Jahrestreffen deshalb auf den Mai. In dieser Zeit hat sich die Lage aufgehellt: Dank den Impfstoffen haben die westlichen Länder Corona in den Griff gekriegt.
Global sieht es anders aus. In Ländern mit niedrigem Einkommen haben nur 16 Prozent der Menschen eine einzige Impfdosis erhalten – im Vergleich zu 80 Prozent in Ländern mit hohem Einkommen. Neue Varianten und Corona-Wellen könnten uns darum noch auf Jahre beschäftigen.
In Davos wird darum auch diskutiert: «What's next» in Sachen Pandemie? Wie kann man die Impfstoffversorgung für ärmere Länder sicherstellen? Und wie sieht die neue, bessere Arbeitswelt nach Jahren von Homeoffice aus?
Nicola Imfeld (26) ist Wirtschaftsredaktor und erlebt das WEF erstmals als Journalist statt als Soldat der Schweizer Armee.