Was Salsiz, Cervelat & Co. über den Wandel unserer Heimat verraten
Neue Würste braucht das Land

Herbst ist Wurstzeit. Würste 
sind eng mit unserer Heimat verbunden. An ihnen lassen 
sich Geschichte, Kultur und 
Veränderungen ablesen.
Publiziert: 21.09.2019 um 11:04 Uhr
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Aktualisiert: 24.09.2019 um 10:16 Uhr
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Tanya Giovanoli beim Wursten in ihrer Metzgerei in Tamins.
Foto: Nicola Pitaro
Silvia Tschui

Endlich ist es Herbst, endlich – Vegetarier und Veganer müssen jetzt stark sein – beginnt die Saison der Spezialwürste. Saftige Blut- und Leberwürste. Waadtländer Saucissons mit Lauchrahmkartoffeln. Luganighe mit Polenta.

Im Herbst, das hat eine lange Tradition, wursten die Metzger anders als im Rest des Jahres. Die Gründe liegen nah: Bauern konnten früher nur einen Teil ihres Viehbestands durch den Winter füttern. Einige Spezialitäten sind zudem rasch ­verderblich – darum gibts Blut- und Leberwürste nur für kurze Zeit im Herbst. Auch Tessiner oder Bündner Spezialitäten wie Salsiz und ­Salametti werden traditionell jetzt hergestellt, da es ab September in den höheren Lagen keine Fliegen mehr hat und sich das Fleisch so lufttrocknen lässt.

Auch sonst lässt sich an Würsten so manches an Geschichte, Geografie, Landwirtschaft und Herkunft ablesen. So kann etwa eine Waadtländer Saucisson nur in einem Weinbau­gebiet ihren typischen Geschmack bekommen: Der Metzger gart die Wurst für rund eine Stunde über dem Trester, der bei der Weinherstellung übrig bleibt. Oder Kalberwürste, eine Glarner Spezialität aus Kalbfleisch, Brot und Milch, können nur in einem Milchwirtschaftsgebiet entstehen. In ihnen ist übrigens so wenig Fleisch enthalten, dass sie lange Zeit sozusagen illegal als Würste verkauft werden mussten – das bundesweite Lebensmittelgesetz verbot ab 1905 den Zusatz von Getreide oder Milch. Erst seit 1992 – nach jahr-zehnte­langen Gerichtsstreitigkeiten unter anderem mit dem Kanton St. Gallen, der durch die Kalberwürste die Vorrangstellung seiner Bratwürste bedroht sah – gilt die Kalberwurst schweizweit offiziell als Wurst.

Wurstgeschichte ist auch Menschheitsgeschichte

Grabenkämpfe, Politik, Geschichte – sogar Rückschlüsse auf die Topografie eines Geländes kann man aus Traditionswürsten ziehen. Schweinehaltung, für die wenig und flaches Land nötig war, war etwa im Mittelland verbreiteter. Die fruchtbaren Felder im Flachland waren zudem oftmals zu schade für die Gras­bewirtschaftung und wurden eher für Getreide- oder Kartoffelanbau ­gebraucht. Hügeligeres Gelände hingegen ist für Kühe, Ziegen und Schafe immer noch geeignet. Das Fleisch einer Wurst gibt also Hin­weise darauf, in welcher Landschaft diese «gewachsen» ist.

Je südlicher man kommt, desto gröber werden die Würste – auch das hat diverse Gründe: Zur Trockenwurstherstellung, für die gröber gewolftes Fleisch zum Einsatz kommt, braucht es beispielsweise trockenere Luft – und die gibt es in den Berggebieten. Die heute so beliebten fein gewolften Würste wie Bratwürste und Cervelats gibt es ­übrigens nur dank des technischen ­Fortschritts: Erst die Erfindung des Fleischwolfs Mitte des 19. Jahrhunderts ermöglichte die Herstellung eines solch feinen Bräts.

Wurstgeschichte ist also immer auch Menschheitsgeschichte, sozusagen eine fein gemengte Mischung aus Geografie, Klima, Topografie und Entwicklungsstand. Zum allerersten Mal in der Geschichte erwähnt wird die Wurst bei Homer. Er beschreibt ein Gelage mit Blutwurst in der berühmten «Odyssee» – und die soll er, vermuten Experten, ungefähr 800 vor Christus schriftlich festgehalten haben. In Literatur und Kunst führt die Wurst sonst eher ein Schatten­dasein.

Von Würstchen und Cervelat-Prominenz

Die besten Fleischstücke wurden traditionell gebraten oder gekocht verspeist. In die Wurst kam der Rest, der schnell verderblich war und praktisch in Därmen portioniert gleichentags gegessen werden musste oder der sonst keine Verwendung fand: Schwarte, Abschnitte und teilweise Innereien konnten (und können) alle durch Räuchern oder Trocknen haltbarer gemacht werden. Eine gute Sache, wird so doch alles vom Tier gebraucht.

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Das Schweizer Kunstduo Fischli/Weiss lässt 1979 Cervelats über den Laufsteg catwalken – und bringt so endlich Humor in die hiesige Kunstszene.
Foto: Peter Fischli David Weiss

Fleisch war trotzdem ein Luxus­artikel. Und so hat die Wurst als Fleischrestprodukt einen leicht ­schizophrenen, also positiven wie auch negativen, Niederschlag im Sprachgebrauch hinterlassen. «Ist mir wurscht» bedeutet so viel wie «ist mir egal»; wenn jemand herumwurstelt, macht er meist schlechte Arbeit, und wenn man ein Hanswurst oder ein Würstchen genannt wird, ist das beileibe kein Kompliment – nicht mal, wenn er zur Cervelat-Prominenz gehört. Begriffe wie «Extrawurst» oder Redewendungen wie «Es geht um die Wurst» deuten hingegen darauf hin, dass die Wurst eben doch etwas ­Besonderes ist.

Sie sollte uns allen nicht wurst sein – denn sie zeigt uns auch, dass sich unsere Heimat rasant ändert. Die Welt rückt enger zusammen, die Globalisierung macht auch vor der Wurst nicht Halt, wie ein jüngeres Kapitel der Schweizer Wurst­geschichte zeigt: Der mit Abstand beliebtesten Wurst der Schweiz, dem Cervelat, drohte 2008 das Aus. Der BSE-Krise wegen wurde der Import von Rinderdärmen aus ­Brasilien verboten – und nur diese Därme eignen sich zur Cervelat-Herstellung. Der «Darmalarm» beschäftigte das Bundeshaus mona­telang. Die «Taskforce Cervelat» konnte es am Ende richten und eine Importerlaubnis für Därme aus ­Paraguay, Uruguay und Argentinien erwirken. Der Schweizer Verzehr von 160 Millionen Stück Cervelats pro Jahr war gesichert.

Manche Wurstarten sterben heute einfach aus

Nur am Rande: Die zweitbeliebteste Wurst der Schweiz ist die gute alte Bratwurst. Manch andere Schweizer Wurst führt hingegen ein unverdientes Schattendasein. Licht in dieses Dunkel bringt seit gut zehn Jahren der Verein «Kulinarisches Erbe der Schweiz» oder «Patrimoine culinaire». Auf der Webseite patrimoineculinaire.ch inventarisiert er lokale Spezialitäten kantonsweise, darunter auch Würste – und vermittelt gleichzeitig allerlei Wissenswertes über Schweizer Regionen und Gebräuche. Etwa, dass die solothurnische Ramswurst nach einem lokalen Kartenspiel, dem Rams, benannt wurde. Denn diese Wurst winkt bei Rams-Turnieren in Restaurants oft als Hauptgewinn. Oder dass die Churer Beinwurst nach einem Einbruch ins Schloss des Bischofs und dem Diebstahl einer Schweinehälfte entstand. 52 verschiedenen Wurst­arten aus allen Regionen der Schweiz ist auf patrimoineculinaire.ch ein Denkmal gesetzt.

Viele andere Würste hätten, wenn sie schmollen könnten, allen Grund, die beleidigte Leberwurst zu spielen: Es gibt sie kaum oder gar nicht mehr. Die 52 porträtierten Wurstarten sind sozusagen Über­lebende. Denn genauso wie lokale Dialekte und Eigenschaften in den letzten Jahrzehnten zusehends verschwunden sind, schrumpft auch die Vielfalt der Wurstwaren.

Chance für kleine Betriebe mit lokalen Spezialitäten

Philipp Sax vom Schweizer Fleisch-Fachverband (SFF) kennt einen der Gründe: «Grossverteiler wie Coop und Migros haben in den letzten 20 Jahren viele mittlere ­Unternehmen aufgekauft.» Und ­deren Sortiment an lokalen Spezialitäten wurde daraufhin reduziert. Die gute Nachricht: «Für einige Klein­unternehmen ist das Wegfallen der mittelgrossen Betriebe eine Chance», sagt Sax. Er sieht die – wenn auch noch zaghaften – An­fänge einer Trendwende: «In den USA sieht man seit längerem, dass sich im Schatten der Nahrungsmittelriesen kleine, lokale Unternehmen etablieren können.» Einige Konsumenten würden wieder tra­ditionell und lokal hergestellte Nahrungsmittel wollen – ehrliche so­zusagen, ohne ­diverse Zusatzstoffe und E-Nummern.

Auch die Massentierhaltung ist laut Sax für viele ein Grund, auf lokale, nachhaltige und fair pro­duzierte Tierprodukte umzustellen. Seit ­einigen Jahren sei das Ent­stehen solcher Spezialitätenmetzge­reien auch in der Schweiz zu sehen. Insbesondere gut vermarktete, nachhaltig produzierte Nischen­produkte hätten eine gute Chance, langfristig zu überleben.

Vom «Format» Wurst fasziniert

Einer, der über die gute Vermarktung sozusagen gestolpert ist, ist Mika Lanz. Der ehemalige Filmemacher hat an der ETH Lebensmittelwissenschaften studiert. Seither ist er vom «Format» Wurst fasziniert. Unter Format versteht er mehr als einfach nur Fleisch in ­einer Hülle: «Es gibt kein anderes Lebensmittel, bei dem man ohne Besteck oder Teller einen ganzen Znacht festhalten kann. In einer Hand ein Bier, in der anderen eine Wurst – mehr braucht es eigentlich nicht.»

Seine Stadtjäger, die er seit 2011 herstellt, haben sich fest etabliert. Der eingängige Name sei eher zufällig entstanden. Als Ausgleich zum kopflastigen Studium arbeitete er bei einem Metzger und stellte dort auch eigene Trockenwürste her. Weil er ein paar übrig hatte, nahm er sie an einen Anlass mit. Dort lagen Landjäger auf dem Tisch; und weil seine Tiere aus ­einem Biohof aus der Stadt stammen, folgte die Eingebung – und die Geburtstunde der ­eigenen Wursterei: Mit «Stadtjäger» beschriftet Lanz die Würste, und sie gingen, sagt Lanz, «wohl auch dank des Namens weg wie warme Weggli, äh, Würste».

Lanz verfolgt seit seinem Stu­dium einen wissenschaftlichen ­Ansatz. So hat er etwa einige Trocknungsschritte von der Tradition ­abgekoppelt und komplett um­gestellt. Weissschimmel etwa, ein Pilz­geflecht, welches auf traditionell hergestellten Würsten oft zu finden ist, gibt es bei seinen Trockenwürsten nicht. Auch seine Grillwürste namens «Eis Zwickerli» sind ein Novum: Sie kommen ausschliesslich gefroren auf den Grill. «So bleibt die Kerntemperatur länger tief und die Wurst damit saftiger. Das Produkt enthält keinerlei Zusatzstoffe, und dank der langen Haltbarkeit gibt es weniger Foodwaste.» Das Eis Zwickerli sei so im Vergleich zu einer normalen Grillwurst nachhaltiger.

Beinwürste, Hirschsalsiz und Trockenblutwürste

Ganz auf Tradition setzt hingegen Tanya Giovanoli (40). Die Tochter von Generationen von Metzgern aus Maloja GR weiss, was Qualität ist. «Viele Produkte, die ich im Supermarkt kaufen kann, will ich nicht essen», sagt sie. Nach Jahrzehnten im Unterland ist sie vor kurzem nach Graubünden heim­gekehrt, um die Familientradition weiterzuführen. Im Schlosshotel Reichenau stellt sie nun traditio­nelle, teilweise fast in Vergessenheit geratene Engadiner und Bergeller Spezialitäten wie Beinwürste, Hirschsalsiz oder Trockenblutwürste her. Und zwar nicht un­bedingt so, wie sie es in der Lehre, sondern so, wie sie es von klein auf gelernt hat: aus Fleisch und Gewürzen, dafür aber ohne Konservierungsstoffe, Nitritpökelsalze oder sonstige Chemikalien. Und aus ­Tieren aus der Region: Ein Grossteil ­ihrer Schweine stammt von der ­familieneigenen Alp in Maloja, viele der Lämmer vom Biohof der ­Cousine, der Rest von persönlich bekannten Lieferanten oder Jägern, die für eine anständige Tierhaltung garantieren. Das schlägt sich auf die Qualität nieder: Ihre Alpensau-Rahmbratwürste und Blutwürste finden reissenden Absatz.

Warum uns der Klimawandel nicht wurst sein kann

Beiden Betrieben räumt Sax trotz unterschiedlicher Philosophie gute Überlebenschancen ein. «Tradition ist genauso wichtig wie Innovation», sagt er. Und wenn die Schweizer Wurstvielfalt langsam wieder ansteige, so deute das auf Vitalität und Innovation hin. «Die Welt ist in einem stetigen Wandel, und die Wurst soll sich mitentwickeln», sagt denn auch Lanz. «Mit dem Format Wurst kann man noch viel anstellen.» Fleisch kombiniert mit anderen Rohstoffen wäre zukünftig eine Möglichkeit, über die wir nachdenken sollten, sagt er: «Gesellschaftliche Veränderungen und Klimawandel fordern uns heraus, das Format Wurst zu modernisieren, auch da die Fleischproduktion kritischer beurteilt wird als früher.» Es geht bei der Wurst für uns alle eben sprichwörtlich um die Wurst.

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