Im vergangenen Jahr waren in der Europäischen Union (EU) 109 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das sind 21,7 Prozent der Gesamtbevölkerung, wie Eurostat, das statistische Amt der EU, diese Woche mitteilte.
Auch für die Schweiz weist Eurostat für 2018 Zahlen aus. Demnach leben hierzulande 17, 4 Prozent der Bevölkerung in Gefahr von Verarmung oder sozialer Ausgrenzung. Der Schweizer Wert ist also besser als der EU-Durchschnitt, aber schlechter als in Tschechien, Slowenien, der Slowakei, Finnland und den Niederlanden.
Aber kann das wirklich sein? Steht die Schweiz bezüglich Armutsgefährdung tatsächlich schlechter da als diese Staaten?
Reichtum ungleicher verteilt ...
Marianne Hochuli von der Hilfsorganisation Caritas schränkt ein: «Die EU wendet ein relatives Armutskonzept an. Armutsgefährdet zu sein, bedeutet, ein deutlich tieferes Einkommen zu haben als die Gesamtbevölkerung.»
Die EU setze die Gefährdungsschwelle bei 60 Prozent des verfügbaren Medianeinkommens an. Das Medianeinkommen ist der mittlere Lohn: Gleich viele Menschen verdienen mehr, gleich viele verdienen weniger.
In der Schweiz leben demnach mehr Menschen unter dieser 60-Prozent-Grenze als zum Beispiel in Tschechien. Hochuli: «In der reichen Schweiz sind sowohl die Einkommen als auch die Vermögen sehr ungleich verteilt.»
... aber höhere Kaufkraft
Marco Salvi von der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse findet den Ländervergleich nutzlos. Die Kaufkraft in der Schweiz liege – absolut betrachtet – viel höher als in anderen Ländern. «Wenig Verdienende sind in der Schweiz zweifellos bessergestellt als in jedem osteuropäischen Land!»
Salvi betont zudem, dass die Ungleichheit in der Schweiz abgenommen habe – wie in vielen anderen europäischen Ländern auch. Marianne Hochuli widerspricht: «Die aktuellen absoluten Armutszahlen des Bundesamts für Statistik zeigen, dass die Zahl der Armutsbetroffenen in der Schweiz seit 2014 konstant ansteigt.»
Überdurchschnittlich arm seien Alleinerziehende, Personen ohne nachobligatorische Bildung sowie Alleinlebende. «Mangelnde Bildung, Verlust der Arbeitsstelle, kleine oder mehrere Kinder in einer Familie sowie Trennung und Scheidung», so Hochuli, «sind die grössten Armutsrisiken in der Schweiz.»