Diese Woche berichtete BLICK aus dem Tessin. Zum Abschluss der Serie spricht der mächtigste Tessiner auf dem Wirtschaftsparkett: UBS-Chef Sergio Ermotti (57). Der Luganese zeigt sich als echter Patriot. Ein Tessiner in den Bundesrat? Keine Frage. Besser wären sogar zwei Vertreter der italienischen Schweiz, meint er lachend.
Doch Ermotti meint es ernst. Er macht sich Sorgen um die Schweiz. Das Land sei drauf und dran, seine Stärken zu verspielen. Die frühere Generation habe viel aufgebaut, die heutige gebe alles aus, die künftige werde ein Problem haben.
Ein weiterer Vorwurf: Die Regierungsparteien missbrauchten die Demokratie, wenn sie ständig mit den Volksrechten drohten. Ebenso hart ins Gericht geht Ermotti mit der Nationalbank und der Finanzmarktaufsicht. Auch die eigene Zunft bekommt ihr Fett ab: Die Börsenbetreiberin SIX Group tadelt Ermotti als ineffizient und teuer. Brisant: Die UBS ist der grösste Aktionär der SIX. Ermottis Kritik könnte ein Erdbeben auf dem Finanzplatz auslösen.
Unser Interview findet am späten Freitagnachmittag statt. UBS-Chef Sergio Ermotti spult seine letzten Termine der Woche ab. Der BLICK-Fotograf empfängt ihn vor dem LAC, dem neuen Kulturzentrum in Ermottis Heimatstadt Lugano. Der Topbanker ist auch vor der Linse ein Profi, dennoch wirkt er angespannt, ist im Kopf bereits beim nächsten Termin. Doch da taucht ein Bekannter auf – und plötzlich schlägt die Stimmung um. Der UBS-Chef kommt ins Plaudern, zeigt sich von seiner herzlichen Seite.
BLICK: Herr Ermotti, was ist typisch tessinerisch an Ihnen?
Sergio Ermotti: Ich fühle mich der Schweizer Kultur sehr verbunden, habe aber einen starken italienischen Hintergrund. So gesehen bin ich sicher ein typischer Tessiner.
Also immer locker drauf?
Das ist natürlich so ein Stereotyp … Aber ich kann schlecht über mich sprechen. Was meinst du, Hubertus? (Ermotti fragt seinen Kommunikationschef Hubertus Kuelps.)
Hubertus Kuelps: Du vertrittst einerseits Schweizer Tugenden, bist pünktlich, genau, verlässlich. Im Umgang spürt man aber den Unterschied, du bist lockerer, informeller. In der UBS sind zum Beispiel viele miteinander per Du. Das gehört zu unserer Kultur.
Sprechen Ihre Mitarbeiter Sie tatsächlich mit Du an, Herr Ermotti?
Ermotti: In den meisten Fällen schon. Das hat aber weniger mit dem Tessin zu tun als mit dem angelsächsischen Einfluss. Dort spricht man sich ja hauptsächlich mit dem Vornamen an.
War es in Ihrer Karriere ein Vor- oder ein Nachteil, Tessiner zu sein?
Es scheint ein Vorteil gewesen zu sein (lacht). Im Ernst: Als Tessiner muss man sich ausserhalb des Kantons beweisen, um Karriere zu machen. Ich kam mit 25 nach Zürich, später nach London. Auch da war es ein Vorteil, einer Minderheit anzugehören. Man kann andere Kulturen besser verstehen, wenn man nicht zur stärksten Kultur gehört.
Wie ist heute Ihr Verhältnis zum Tessin?
In meinem Kopf habe ich das Tessin nie verlassen. Ich bin, wenn ich kann, noch heute jedes Wochenende im Tessin oder im Engadin. Auch meine Frau kommt aus Lugano. Das Tessin ist unser Zuhause.
Wie wichtig ist Ihnen, dass es einen Tessiner Bundesrat gibt?
Bei sieben Bundesräten sollte es eigentlich normal sein, dass mindestens einer die italienische Schweiz vertritt. Zwei wären noch besser! (lacht). Aber im Ernst, es muss nicht unbedingt ein Tessiner sein, es kann auch beispielsweise jemand aus dem italienischen Teil Graubündens sein. Wichtig ist, dass die italienische Kultur der Schweiz repräsentiert wird. Gleichzeitig muss es der beste Kandidat für die Rolle sein. Und den haben wir!
Sergio Ermotti (57) startete seine Karriere mit 15 als Lehrling bei der Cornèr Bank in Lugano TI. Danach arbeitete er in Zürich, London und New York bei diversen Banken. 2011 wurde er Konzernchef der UBS. Ermotti verbringt die Wochenenden so oft wie möglich zu Hause in Montagnola TI, bei der UBS in Lugano hat er ein Zweitbüro. Seine Frau Tina (54) ist ebenfalls Tessinerin, das Paar hat zwei Söhne (21 und 23).
Sergio Ermotti (57) startete seine Karriere mit 15 als Lehrling bei der Cornèr Bank in Lugano TI. Danach arbeitete er in Zürich, London und New York bei diversen Banken. 2011 wurde er Konzernchef der UBS. Ermotti verbringt die Wochenenden so oft wie möglich zu Hause in Montagnola TI, bei der UBS in Lugano hat er ein Zweitbüro. Seine Frau Tina (54) ist ebenfalls Tessinerin, das Paar hat zwei Söhne (21 und 23).
Wer ist ihr Favorit?
Wenn der UBS-Chef einen Namen nennt, wäre das der Todesstoss für den Kandidaten (lacht).
Randregionen wie das Tessin stehen wirtschaftlich unter Druck. Nun verlagert ausgerechnet der Weltkonzern UBS Hunderte von Stellen von Zürich nach Schaffhausen und Biel. Was steckt dahinter?
Wir können in diesen Regionen neue Talente gewinnen, und die Bedingungen sind erst noch attraktiver als in Zürich. Die Konkurrenz um gute Leute ist weniger hart und die Gesamtkosten sind tiefer.
Wann werden Sie Stellen im Tessin schaffen?
Vorerst konzentrieren wir uns auf Schaffhausen und Biel. Wenn es einen dritten Standort gibt, wird der mit Sicherheit auf der Nord-Süd-Achse liegen. Das könnte somit auch das Tessin sein.
Warum verlagern Sie die Jobs nicht nach Polen?
Wo es möglich ist, halten wir die Arbeitsplätze hier. Das ist unser Bekenntnis zur Schweiz. Das Problem ist aber: Wir haben einen Fachkräftemangel, der sich in Zukunft noch verschärfen wird. In den nächsten zehn Jahren werden in der Schweiz eine Million Leute pensioniert – aber nur halb so viele treten in den Arbeitsmarkt ein.
Sollte die Wirtschaft im Kampf gegen den Fachkräftemangel nicht viel stärker auf ältere Mitarbeiter setzen?
Was heisst sollte? Wir müssen! Wir haben gar keine andere Wahl. Selbst kleine Schritte helfen dabei. Wenn zum Beispiel ein leitender Angestellter mit 58 genug von seiner Führungsfunktion hat, möchte er vielleicht als Kundenberater Teilzeit weiter arbeiten. Damit das funktioniert, muss man das Ego-Problem überwinden. Bei der UBS verliert man den Titel deshalb nicht, wenn man die Funktion wechselt.
Und der Lohn bleibt auch der gleiche?
Der Lohn kann angepasst werden oder reduziert sich aufgrund der Teilzeit, aber das Prestige und die Erfahrung bleiben. Mindestens ebenso wichtig sind Frauen. Wir haben Comeback-Programme für Mitarbeiter, die eine Auszeit wegen Erziehungspflichten hatten. Zudem bieten wir Frauen mit Kindern Lösungen mit Teilzeit und Homeoffice an. Das Ziel ist, dass sie die Bank nie verlassen.
Sie sind vom Banklehrling zum CEO aufgestiegen. Wäre eine solche Karriere heute noch denkbar?
Die Wahrscheinlichkeit ist sogar gestiegen, dass ein Lehrling eines Tages CEO wird. Denn die Qualität der Lehre hat sich massiv verbessert. Flexibilität und Mobilität sind heute viel grösser als zu meinen Zeiten.
Wie haben Sie sich gegen Akademiker durchgesetzt?
Das geschah automatisch. Als ich zu Beginn der 1990er-Jahre nach London ging, hatten die meisten meiner Leute Uni-Abschlüsse oder sogar Doktortitel. Ich konnte von ihnen lernen, sie konnten aber auch von mir lernen. Die Theorie ist eine Sache, aber wie man sie in die Praxis umsetzt, ist wohl wichtiger.
Herr Ermotti, wie gut geht es der Schweiz heute?
Noch sind wir in vielen Ranglisten top, aber wir leben von den Reserven. Unsere Vorgänger haben sehr viel aufgebaut, aber unsere Generation gibt mit beiden Händen aus, die nächste Generation könnte ein Problem haben.
Sie sind zu pessimistisch!
Ich würde eher sagen realistisch. Man verdrängt die Probleme. Nehmen Sie die AHV. Unsere Ökonomen werden beleidigt, wenn sie nachweisen, dass das Geld für die nächste Generation nicht reicht. Wenn wir nicht mehr über Fakten diskutieren können, haben wir ein Problem. Auch die direkte Demokratie wird zunehmend missbraucht.
Wie meinen Sie das?
Sie ist zum Teil leider zu einem Instrument des Populismus geworden. Wenn eine Partei im Parlament unterliegt, droht sie mit dem Referendum oder mit einer Initiative. Bei Kleinparteien, die auf sich aufmerksam machen müssen, ist das ja noch verständlich. Wenn sich aber Regierungsparteien regelmässig so verhalten, ist das dem Dialog und der Konkordanz sicher nicht zuträglich.
Zurück zu den Banken: Sie haben die Idee angestossen, dass die Börsenbetreiberin SIX Group eine Plattform aufbauen soll, die für die Banken Geschäfte abwickelt. Nun hat SIX-Präsident Romeo Lacher gesagt, das Projekt sei nicht machbar. Ist es gestorben?
Überall arbeiten Firmen zusammen, aber in der Finanzindustrie nur sehr begrenzt. Dabei ist klar: Wir haben Überkapazitäten, die Kosten steigen, die Margen stehen unter Druck. Wir müssen Wege finden, um Grössenvorteile zu nutzen. Die SIX könnte einen Teil zur Lösung beitragen. Wir haben aber sicher nicht gewartet, sondern arbeiten schon an anderen konkreten Projekten.
Was bedeutet das für die SIX?
Ich denke, die SIX muss über die Bücher gehen und sich Gedanken machen, wie sie sich aufstellen kann. Als grösster Aktionär werden wir uns natürlich aktiv an der Diskussion beteiligen. Ich glaube nicht, dass das heutige Geschäftsmodell langfristig nachhaltig ist.
Können Sie sich vorstellen, die SIX-Aktien der UBS zu verkaufen?
Das steht jetzt nicht im Vordergrund. Allerdings, wenn wir mit den Dienstleistungen nicht zufrieden sind, suchen wir natürlich nach Alternativen. Fakt ist, wir sind nicht an der SIX beteiligt, um Geld zu verdienen, sondern um eine effiziente und kompetitive Infrastruktur zu haben.
Sie haben den Regulierungseifer der Behörden kritisiert. Hat er mit dem Wechsel im Finanzministerium von Eveline Widmer-Schlumpf zu Ueli Maurer nachgelassen?
Die Situation hat sich positiv entwickelt. Bundesrat Maurer hat dabei sicher einen Beitrag geleistet. Er setzt sich ein für die Schweiz und den Finanzplatz. Aber auch viele Parlamentarier verstehen heute besser, dass der Finanzplatz nur wettbewerbsfähig bleibt, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Was heute ein Problem ist: Die Regulierungen nehmen immer noch zu und ändern sich zu häufig. Aus meiner Sicht liegt zu viel im Ermessen der Regulatoren. Das ist etwa so, wie wenn der Schiedsrichter im Fussball mitten im Spiel die Regeln ändern kann.
Sprechen Sie von der Finanzmarktaufsicht oder von der Nationalbank?
Von beiden. Die Schweiz ist bei der Regulierung zu einem Sonderfall geworden. Oft fehlt die politische Diskussion.
Gesetze gehen immer durchs Parlament.
Definiert werden nur die Rahmenbedingungen, bei der Umsetzung gibt es viele Freiheiten.
Die Nationalbank hat den Grossbanken in ihrem Stabilitätsbericht ein gutes Zeugnis ausgestellt.
Wir haben auch sehr viel umgesetzt. In einigen Punkten wird immer noch ein zu negatives Bild gemalt. Sehen Sie, man spricht beispielsweise über die Verluste der Banken während der Finanzkrise. Aber man verschweigt, dass die UBS ihre Bilanz um zwei Drittel verkleinert, die Risiken um 50 Prozent reduziert, das verlustabsorbierende Kapital um 40 Prozent auf 74 Milliarden Franken erhöht und das Geschäftsmodell angepasst hat. Und, wie gesagt, die Massstäbe werden oft verändert.
Inwiefern?
Die Schweizer Banken haben grosse Fortschritte gemacht, um die Anforderungen unserer Gesetzgebung zu erfüllen. Plötzlich werden sie aber mit Ländern mit einem ganz anderen Bankensystem verglichen und zu Nachbesserungen aufgefordert. Das meine ich, wenn ich sage, die Regeln würden während des Spiels geändert. Es werden Äpfel mit Kartoffeln verglichen. Das schadet der Glaubwürdigkeit der Schweiz.
Warum soll jemand der Schweiz schaden wollen?
Sicherlich will man nicht der Schweiz insgesamt schaden, doch genau das ist die Konsequenz. Es wird Unsicherheit aufgebaut. Es ist ein Problem, wenn jemand denkt, er sei im Besitze der Wahrheit. Früher glaubten dies die Banken. Wir haben die Konsequenzen gesehen. Nun hat das Pendel auf die andere Seite geschlagen. Es scheint immer häufiger, dass die Regulatoren glauben, sie seien im Besitze der Wahrheit. International haben die Aufsichtsbehörden und Politiker verstanden, dass es ein Umdenken braucht. In der Schweiz aber noch nicht ganz. Wir leiden unter dem Musterschülersyndrom.