Die Hiobsbotschaft kam an einem kalten Januarmorgen. «Ich rate Ihnen, die Wohnung sofort zu verlassen», sagte der Asbestfachmann am Telefon. Pia Noser* flüchtet mit ihrem zwei Wochen alten Baby, einem der beiden Söhne und dem betagten Vater ins Auto. Im Badezimmer, einer staubigen Baustelle, hatte der Spezialist Asbest nachgewiesen.
Die 39-jährige Mutter sucht verzweifelt Hilfe. «Ich sass mehrere Stunden im Auto und habe telefoniert.» Ihr Mann nimmt notfallmässig frei. Eine Woche lang wird die fünfköpfige Familie aus Kriens LU samt Vater bei Freunden und im Hotel übernachten, während eine Spezialfirma die Wohnung reinigt.
Die Krise hatte drei Wochen vorher mit einer kaputten Leitung im Bad begonnen. Als Wasser über mehrere Stockwerke tropft, bietet Familie Noser notfallmässig ein Bauunternehmen auf. Am gleichen Tag setzen bei Pia Noser die Wehen ein. Gegen Mitternacht kommt ihr Sohn zur Welt.
Am nächsten Tag spitzt ein Arbeiter ein grosszügiges Loch in die gekachelte Wand, damit der Sanitär das lecke Rohr reparieren kann. Über Weihnachten und Neujahr rauschen die Trocknungsmaschinen.
Niemand warnte die Familie
Was die Familie zu diesem Zeitpunkt nicht weiss: Im Einfamilienhaus von 1935 wurden 1981 Plättli mit einem Asbestkleber montiert – bei der Renovation des Badezimmers. Ungefährlich, solange der Kleber hinter den Fliesen schlummert. Doch «beim Entfernen muss mit einer grossen Freisetzung von Asbestfasern gerechnet werden», heisst es im entsprechenden Suva-Dokument. Die Richtlinien sind streng und eindeutig. Eine solche Baustelle muss mit einer Schleuse versehen, komplett abgedichtet und in Unterdruck versetzt werden, damit kein Staub nach aussen dringt.
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Schon im Spital fragt sich die Mutter, ob der Baustellenstaub gefährlich sein könnte. «Ich habe mir wegen des Neugeborenen Sorgen gemacht.» Doch weder der Sanitär noch die Baufirma sprechen eine Warnung aus, und so verbringt die Familie die Festtage zu Hause.
Nach zwei Wochen klafft noch immer ein Loch im Badezimmer. Die Wand müsse komplett raus, erklärt der Chef des Bauunternehmens. Ein Arbeiter spitzt die ganze Wand herunter. Pia Noser sieht, wie er ohne Schutzkleidung mit Kübeln voll Wandmaterial durch die Wohnung läuft. Weil überall Dreck liegt, greift sie zum Staubsauger.
Bis 1990 fast in allen Häusern verbaut
Seit bald 30 Jahren ist Asbest verboten, doch noch immer droht Gefahr. «Fast in allen Häusern, die bis 1990 erstellt wurden, wurde in irgendeiner Form asbesthaltiges Material verbaut», schrieb 2015 das Bundesamt für Gesundheit. In den kommenden Jahren sei deshalb bei Bauarbeiten «grosse Vorsicht geboten». Gesetze und Richtlinien legen schweizweit genau fest, was zu tun ist. Sobald ein Verdacht besteht – was faktisch bei jedem Haus vor 1990 der Fall ist –, müsste laut Gesetz das Bauunternehmen «die Gefahren eingehend ermitteln und die damit verbundenen Risiken bewerten».
Doch es ist Pia Noser, die misstrauisch wird. Sie organisiert eine Asbestsanierungsfirma für Proben. Zwei Tage später liegt der Befund vor: Die ganze Wohnung dürfte verseucht sein. Die Familie flieht.
Es wird teuer. Übernachtungen im Hotel, Reinigung von Kleidern, ein unbezahlter Urlaub des Mannes. Die Kosten türmen sich auf 6000 Franken – die Familie verlangt sie vom Bauunternehmer zurück. Doch der schiebt die Verantwortung auf die Familie. Tatsache sei, dass der Baufirma «nicht mitgeteilt wurde, dass die fragliche Badezimmerwand mit gesundheitsgefährdenden Stoffen belastet sei», lässt er über seinen Anwalt ausrichten.
Gesundheit der Familie wurde gefährdet
Zudem habe die Familie zum Handeln gedrängt. Deshalb habe es keinen Anlass gegeben, «zeit- und kostenaufwendige Abklärungen betreffend einer allfälligen Asbestbelastung vorzunehmen». Der Anwalt behauptet weiter, dass die Baufirma «unter den gegebenen Voraussetzungen gar keine einschlägige Aufklärungspflicht traf».
«Die Gesundheit der Familie wurde in einem nicht zu verantwortbaren Mass gefährdet», sagt hingegen Schadstoffspezialist Stephan Baumann, der für die Familie die Asbestgefahr beurteilte. Es sei absurd, wenn ein Fachmann von Laien verlange, über Asbest informiert zu werden. Baumann hat der Familie zu einer Strafanzeige geraten. Doch dazu fehlt das Geld. «Wir sind zufrieden, wenn wir die 6000 Franken zurückbekommen», sagt Pia Noser.
Die mikroskopisch kleinen Asbestfasern können sich in der Lunge festsetzen und Jahrzehnte später Tumore auslösen. «Bereits geringe Konzentrationen von Asbeststaub in der Luft können die Entstehung von Lungen- und Brustfellkrankheiten fördern», hält der Bund in einer Broschüre für Hauseigentümer fest.
Die verdächtige Fassade
Peter Weber* kennt die Gefahr. Der 53-Jährige aus Rotkreuz ZG arbeitet in der Baubranche. Als auf dem Nachbargrundstück ein Haus abgerissen wird, beobachtet er die Baustelle mit Argusaugen. Er hat gerade Ferien. Schon Monate zuvor hat er nach einer Einsprache die Zusicherung erhalten, dass die Bauherrschaft das Abbruchhaus vorgängig auf Bauschadstoffe untersucht lässt. Die Eternitfassade war ihm sofort aufgefallen.
Entsetzt beobachtet er, wie ein Arbeiter Eternitschindeln von der Fassade runterschlägt. Das setzt Asbestfasern frei. Die leichten grauen Asbestzementschindeln wurden schweizweit bei rund 250'000 Gebäuden verbaut.
Weber fackelt nicht lange und alarmiert telefonisch die Unfallversicherung Suva. Die hat es aber nicht sehr eilig. Man verspricht einen Rückruf. Am nächsten Tag beobachtet Weber, wie Kinder fasziniert zusehen, während weitere Eternitschindeln beschädigt werden. Weber greift zum Hörer und macht der Suva Dampf. Die stellt für den nächsten Tag eine Kontrolle in Aussicht.
«Die Gefahr zu wenig ernst genommen»
Am Morgen inspiziert ein Suva-Spezialist die Baustelle – und erteilt Nachhilfe. Polier und Arbeiter erfahren, wie eine Asbestfassade korrekt demontiert wird: Schindeln nicht beschädigen, Baustelle absperren. Dann erst darf weitergearbeitet werden. Es habe keine «schwere Gefährdung der Arbeitnehmenden» bestanden, deshalb verzichtet die Suva auf einen Baustopp. Die Arbeiter hätten sich korrekt mit Maske und Anzug vor Asbestfasern geschützt.
Baufirmen müssen die Kontrollen der Suva nicht fürchten. Die Versicherung erklärt, man besuche hauptsächlich meldepflichtige Asbestbaustellen, Eternitfassaden und -dächer fallen nicht in diese Kategorie. Der Suva werden jährlich bis zu 15'000 Asbestsanierungsarbeiten gemeldet. 2017 war sie bei rund 800 Baustellen vor Ort. Wegen schwerer Gefährdung wurden 83 sofortige Baustopps verfügt.
Bei der Baustelle in Peter Webers Nachbarschaft fruchtet die Suva-Nachhilfe nicht. Am Tag darauf – grosse Teile der Fassade sind entfernt – müssen die Nachbarn ohnmächtig mitansehen, wie der Bauarbeiter erneut Eternitschindeln zertrümmert. Weber alarmiert jetzt die Gemeinde. Als dann auch noch eine Nachbarin unter Tränen vorspricht, lässt die Gemeinde innert Stunden die Arbeiten stoppen. Der Baufachmann ist noch heute wütend: «Was, wenn ich nicht Ferien gehabt hätte?»
Beim Krisengespräch auf der Gemeindekanzlei sitzt auch der Geschäftsführer der Baufirma am Tisch. Er räumt ein: «Es ist unbestritten, dass einiges schieflief.» Seine Firma habe von der Asbestfassade gewusst und deshalb entschieden, die Schindeln vorsichtig durch einen Arbeiter mit Schutzausrüstung entfernen lassen. Doch dieser habe auch nach der Intervention der Suva «die Gefahr zu wenig ernst genommen».
Noch mehr Asbest im Haus
Das Ganze zu wenig ernst genommen hatten auch Bauleitung und Baufirma. Erst jetzt lassen sie das ganze Haus von einer Spezialfirma untersuchen, die in Bad, Küche und Keller noch mehr Asbest findet. Ein zertifiziertes Sanierungsunternehmen führt nun den Rückbau durch, die Suva verwarnt die Baufirma.
Peter Weber ist aufgebracht. Um ihn zu beruhigen, willigt die Bauleitung ein, in seiner Wohnung Asbestmessungen zu bezahlen. Sie fördern Asbestfasern im Schlafzimmer zutage. Wie viele, lässt der Bericht offen. Die beigezogenen Experten vermuten eine tiefe Belastung. Keine Beruhigung für Webers Partnerin – ihr Vater ist an Asbestkrebs gestorben. Wenige Tage später erleidet sie einen Nervenzusammenbruch.
«Wir haben die Lehren daraus gezogen», sagt der Chef der Baufirma. Die Branche müsse umdenken – wie beim Helmobligatorium. Er fordere jetzt jeweils von der Bauleitung einen Gebäudecheck. Doch das Geld sei ein Problem: «Die Bauherren scheuen die Kosten.»
Für Peter Weber bleibt die psychische Belastung, weil ungewiss ist, ob er und seine Partnerin Asbestfasern eingeatmet haben. «Es ist wie russisches Roulette.» Asbestkrebs hat eine Latenzzeit von 15 bis 45 Jahren. Sobald er ausgebrochen ist, verläuft er aggressiv und fast immer tödlich.
* Name geändert