Man nehme ein Netz, in dem Mandarinen verkauft werden, stellt es offiziellen Prüfstellen für Medizinprodukte als hochwertiges Implantat vor – und erhält die Zulassung. Genau das hat die niederländische Journalistin Jet Schouten in einem Experiment versucht. Sie verkaufte das Netz erfolgreich als Vaginalnetz für Frauen mit Inkontinenzproblemen. Und schockierte damit eine ganze Industrie.
Obwohl die Journalistin sogar im technischen Bericht für die Prüfstellen schrieb, eine von drei Frauen würde mit dem Netz bleibende Narben haben und künftig kaum noch laufen können, erhielt sie von allen drei Prüfstellen die Antwort, sie würde eine Zulassung bekommen.
Allein in Deutschland wurden im vergangenen Jahr 14'034 Fälle gemeldet
Dieses schockierende Ergebnis gab letztes Jahr den Anstoss für eine internationale Recherche über die Sicherheit von Implantaten und Medizinprodukten, schreibt die «Basler Zeitung». In der ganzen Welt analysierten über 50 Medien Hunderte Fälle im Detail. Koordiniert vom International Consortium for Investigative Journalists (ICIJ) in Washington, reichten Reporter Gesuche bei staatlichen Stellen ein, um Einsicht zu erhalten in das Implantategeschäft. Mehr als 250 Journalisten von 59 Medien aus 36 Ländern arbeiteten dabei zusammen. In der Schweiz seien Recherchedesk und das Datenteam von Tamedia involviert.
Dabei kam heraus: Allein in Deutschland seien im vergangenen Jahr 14'034 Mal Verletzungen, Todesfälle und andere Probleme im Zusammenhang mit Medizinprodukten wie künstlichen Hüft- oder Kniegelenken, Brustimplantaten oder Insulinpumpen gemeldet worden, berichteten am Sonntag die Sender NDR und WDR sowie die «Süddeutsche Zeitung».
Implantate lassen Knochen verroten
Der Grund: Ärzte setzen ihren ahnungslosen Patienten ungetestete Produkte ein. Bei ihren Recherchen stiessen die Journalisten auf Implantate, die Organe zerstörten, die Knochen verrotten liessen, die Morphium-Überdosen oder gar Elektroschocks verteilten. Die Ergebnisse werden in den kommenden Tagen unter dem Titel «Implant Files» veröffentlicht.
In den USA sammelten die Behörden in den vergangenen zehn Jahren 500'000 Berichte darüber, dass Implantate wieder entfernt werden mussten. Die Hersteller blätterten Milliarden hin, um Patientenklagen abzuwenden oder Verfahren zu beenden. In den vergangenen zehn Jahren mussten Medizinprodukthersteller demnach ausserdem mehr als 1,6 Milliarden Dollar zahlen, um Korruptions- und Betrugsvorwürfe beizulegen, wie aus Daten der US-Börsenaufsicht SEC und des US-Justizministeriums hervorgehe.
Und in der Schweiz? Die Recherche zeigt, dass sowohl in der Schweiz als auch in Europa das Zahlungssystem fehleranfällig und intransparent ist. Anders als bei Medikamenten werden auch riskante Produkte schnell zugelassen und nicht systematisch vom Staat überwacht, sondern von privaten Zulassungsstellen. Diese sind mit der Industrie verbandelt, da sie auf deren Aufträge angewiesen sind. In Deutschland beispielsweise wurden in den vergangenen acht Jahren 10'254 Medizinprodukte zugelassen, aber nur 84 abgelehnt.
Frau verlor ihr ungeborenes Kind wegen fehlerhaftem Gerät
Mit gravierenden Folgen. So hat eine Frau ihr ungeborenes Baby vermutlich wegen eines Geräts verloren, das ihr während der Schwangerschaft plötzlich Elektroschocks verteilt hatte. Das Gerät, halb Herzschrittmacher, halb Defibrillator sollte aber nur bei einem Herznotfall Elektroschocks austeilen. Die Frau hatte aber keinen Notfall. Sie schickte den Obduktionsbericht des Kindes an Medtronic. Der Konzern willigte aus «Kulanz» ein, einige Tausend Euro «Wiedergutmachung» zu zahlen, schreibt die Basler Zeitung. Die Frau musste aber eine Stillschweige-Erklärung unterzeichnen.
Später nahm Medtronic das Gerät vom Markt. Die Begründung: Das Gerät mit dem Namen Sprint Fidelis funktioniere falsch und könnte womöglich 13 Todesfälle verursacht haben. Die Firma betont dennoch, sie bringe nur Geräte, die sicher und effektiv in der Behandlung eines medizinischen Problems seien.
Nach einem Skandal im Brustimplantate in Brüssel wurden die Regeln zwar verschärft. Aber in der Schweiz bleiben die privaten Zulassungsstellen – nach massivem Lobbying der Branche. (SDA/sga)