Da sass er also im TV-Interview der Sendung «Eco», etwas jugendlicher als heute, aber durchaus mit der gleichen Bestimmtheit in der Stimme. Ob denn die neuen Regeln weit genug gingen, um eine neuerliche Staatsrettung einer Grossbank zu verhindern? Sie seien «sehr, sehr hart im Vergleich zu dem, was wir vorher hatten», dekretierte der Wirtschaftsprofessor.
Das war im Herbst 2015, Aymo Brunetti war der Kopf einer Arbeitsgruppe, die nach der Rettung der UBS 2008 das neue Regelwerk zur Bankenregulierung in einem zähen Prozess ausgearbeitet hatte. Der Berner Ökonomieprofessor hatte sich damit den Titel des Vaters der «Too big to fail»-Regulierung (TBTF) hart erarbeitet. Ein zentraler Punkt damals: die Erhöhung der Eigenmittelquote, neudeutsch Leverage Ratio, von 3,5 auf 5 Prozent – für 100 Franken Ausleihungen sollten die Banken neu fünf Franken Eigenmittel halten. Das lag damals schon deutlich über den internationalen Standards. Der «Economist» nannte die neuen Schweizer Regeln «schockierend».
Vertreter einer praxisfernen Akademikerkaste
Als es acht Jahre später darum ging, das CS-Ende im bundesrätlichen Auftrag aufzuarbeiten, war Brunetti nicht mehr dabei. Die Leitung der Expertengruppe oblag dem Basler Professor Yvan Lengwiler.
Dafür schiesst Brunetti jetzt umso schärfer von der Seitenlinie. Obwohl die CS nicht an Kapitalknappheit zugrunde ging, will er die Regeln nochmals drastisch verschärfen – die Eigenmittelquote soll jetzt gleich auf zehn Prozent erhöht werden. Die UBS hätte damit mit Abstand das härteste Kapitalregime der Welt. «Dann sollte der UBS-Sitz ins Ausland», verfügte Brunetti in der «Finanz und Wirtschaft» für den Fall, dass eine Abwicklung nicht möglich sei. Die Grossbank beschäftigt 37'000 Mitarbeiter in der Schweiz, zahlt jedes Jahr mehr als zwei Milliarden Steuern, begleitet die Exportwirtschaft intensiv – und ist der letzte grosse Fackelträger des einst so stolzen Finanzplatzes, der durch das CS-Aus schon massiv geschwächt ist.
Für Brunetti offenbar alles sekundär. Die Wachstumsambitionen der UBS in den USA «machen mich wirklich nervös», raunte er, obwohl die Bank deutlich risikoärmer unterwegs ist als vor der Finanzkrise und mehr als dreimal so viel Kapital hält. Und überhaupt: Das von ihm orchestrierte TBTF-Regelwerk sei so gut gewesen, dass der Bundesrat es hätte anwenden sollen – «man hätte die CS abwickeln sollen».
Dass er mit einer derart extremen Haltung kaum den Goodwill von Finanzministerin Karin Keller-Sutter erntete, dürfte ein Grund gewesen sein, warum Brunetti in der bundesrätlichen Expertengruppe nicht mehr dabei war.
Jedoch: Seine Nachfolger waren nicht viel zurückhaltender. Die CS hätte gemäss dem Schweizer Regelwerk abgewickelt werden können, dekretierten auch Lengwiler und seine Mitstreiter – und positionierten sich wie Brunetti als Vertreter einer praxisfernen Akademikerkaste, die keine Verantwortung tragen muss.
In den heiklen Untergangstagen der «March Madness» 2023 hatte keine Regierung und kein Finanzminister den Mut für eine Abwicklung – und das war richtig so: Wenn schon die lokale Silicon Valley Bank im fernen Kalifornien das globale Finanzsystem zum Zittern brachte, so war das Risiko einer Abwicklung eines Global Players schlicht zu gross. Das «Too big to fail»-Regelwerk entpuppte sich als krude Mischung aus Naivität und Selbstüberschätzung, das beim ersten Praxiskontakt zerschellte. Dass im Nachhinein die Professoren in ihren warmen Universitätszimmern die Abwicklung forderten, darf vor allem als Selbstrechtfertigung taxiert werden.
Speziell auch die Begründung für das Abwicklungs-Plädoyer: Die CS habe genügend verlustabsorbierendes Kapital gehabt, auch durch die Regelverschärfung des letzten Jahrzehnts. In der Tat: Mit mehr als 80 Milliarden Franken hätte sie sogar die UBS-Subprime-Verluste aus der Finanzkrise stemmen können. Aber die Ansteckungseffekte waren eben unvorhersehbar. Was aber den ETH-Finanzprofessor Hans Gersbach, ebenfalls Mitglied der Expertengruppe, nicht daran hindert, wie Brunetti eine Kapitalerhöhung auf eine Eigenmittelquote von zehn Prozent zu fordern. Die CS hatte eine solide Feuerversicherung, wurde aber von einem Erdbeben – Liquiditätsabfluss durch Vertrauenskrise – zerstört. Doch das Rezept der Professoren für die deutlich solidere UBS lautet: noch mehr Feuerschutz.
Es fehlt an Pragmatismus
Die Gefahr ist damit gross, dass die Schweiz die Fehler aus der Aufarbeitung der Finanzkrise von 2008 wiederholt. Nach der UBS-Rettung wollte sie mit ihrer weltweit einmaligen «Too big to fail»-Kommission ein Problem lösen, für das in letzter Konsequenz noch niemand eine Lösung gefunden hat. Bankpleiten hat es in der Geschichte immer gegeben, denn es handelt sich um ein Strukturproblem: Keine Bank kann überleben, wenn alle Kunden gleichzeitig ihr Geld abziehen – das Geschäftsmodell besteht nun einmal darin, Geld kurzfristig von ihren Kunden anzunehmen und es langfristig zu verleihen. Das macht die Industrie so speziell.
Die anderen Länder gehen das Problem dann auch deutlich pragmatischer an – und haben die eigene Wettbewerbsfähigkeit stärker vor Augen. Sie suchen keinen Alleingang, sondern folgen der in Basel ansässigen BIZ, deren Basler Ausschuss die globalen Kapitalregeln festlegt. «Wir müssen wegkommen vom Denken, dass wir in der Schweiz andere Regeln festsetzen sollten», betont der Ex-CS- und -UBS-Chef Oswald Grübel. Gerade läuft in Basel die Finalisierung des als «Basel III» bezeichneten Regelwerks, und die amerikanischen Banken um J.P.-Morgan-Leitwolf Jamie Dimon setzen ihre ganze Lobbymacht ein, um das Regelwerk abzuschwächen. Die UBS steht im harten Wettbewerb mit den Amerikanern, vor allem Morgan Stanley, und muss heute schon die härtesten Vorschriften unter den globalen Grossbanken erfüllen.
Neue Vorgaben wären eine Benachteiligung
Doch statt Standortpolitik wittern Professoren und Politiker ihre Profilierungschance. Finanzministerin Keller-Sutter verkörpert das Dilemma in Reinkultur: Ihr 22-Massnahmen-Paket vom 10. April ist einerseits zu vage, um wirklich hart zu sein. Doch als Gerüchte aufkamen, dass sie bei den Eigenkapitalanforderungen nicht durchsetzungsstark genug sei, legte sie via «Aargauer Zeitung» nach: Es gehe um «signifikante Summen», vor allem durch eine erhöhte Kapitalausstattung der Auslandstöchter.
Schnell zirkulierten Zahlen von 15 Milliarden Franken, die «Handelszeitung» errechnete sogar einen Zusatzbedarf von 25 Milliarden. Noch ist alles im Fluss. Doch die neue Vorgabe wäre eine klare Benachteiligung: Für andere Regulatoren ist die Unterlegung der Auslandstöchter kein grosses Thema, in den USA wird sie vollständig ignoriert. Bei der UBS war das Problem ohnehin weniger akut als bei der CS mit ihrer speziellen Rechtsform. Es gilt wieder die alte Schlachtenweisheit: Die Generäle kämpfen den letzten Krieg.
Als zentrale Begründung gilt auch heute noch das Argument, das die damalige Finanzminsterin Eveline Widmer-Schlumpf nach der UBS-Rettung in engem Schulterschluss mit dem damaligen Nationalbank-Präsidenten Philipp Hildebrand als Rechtfertigung für die Verschärfung der Regeln nannte: Die beiden Schweizer Grossbanken seien im Vergleich zur Wirtschaftskraft des Landes zu gross und würden bei einer Pleite mit ihrer faktischen Staatsgarantie die Eidgenossenschaft in den Abgrund reissen.
Gross waren sie in der Tat: Vor der Finanzkrise betrug allein die Bilanzsumme der UBS mit 2300 Milliarden Franken das Vierfache des Bruttoinlandprodukts (BIP), beide Grossbanken brachten es auf mehr als das Sechsfache. Doch jetzt ist nur noch eine Grossbank da, und ihre Bilanzsumme ist nur noch doppelt so gross wie das BIP. Die Regulierungspanik, so wirkt es aber, leider auch.
Der Vergleich mit anderen Ländern zeigt: Viele befinden sich in einer ähnlichen Situation. In Finnland etwa ist die Grossbank Nordea im Vergleich zum BIP grösser als die UBS. Auch die dänische Danske Bank bewegt sich auf UBS-Höhe. Und käme es zu einer Systemkrise wie 2008, wären auch deutlich grössere Volkswirtschaften wie Grossbritannien oder Frankreich aus dieser Perspektive gefährdet: Die Bilanzsummen ihrer drei grössten Banken übersteigen ihr BIP massiv, der Kapitalbedarf wäre in absoluten Zahlen deutlich ausgeprägter, und ihre öffentliche Verschuldungsquote liegt schon jetzt stark höher als in der Schweiz.
Zudem basiert die «Too big to fail»-Angst auf einem Schreckensszenario sondergleichen: Dass der Staat bei einer Bankübernahme die gesamte Bilanzsumme an die Gläubiger auszahlen muss, ist selbst 2008, in der grössten Finanzkrise seit den 1930er Jahren, an keinem grossen Finanzplatz passiert. Im Krisenfall kauft der Staat eine Beteiligung an der Bank, bis hin zur Totalübernahme, doch die Aktien sind gerade wegen der Krise im Keller – die CS wäre bei einer Verstaatlichung für gerade acht Milliarden Franken zu haben gewesen.
2008 beteiligte sich die Schweiz mit vergleichsweise homöopathischen sechs Milliarden an der UBS und verkaufte später die Beteiligung sogar mit einem Gewinn von 1,2 Milliarden. In den USA und Grossbritannien beliefen sich die Kosten für die Staatsbeteiligungen bei Bankrettungen auf höchstens drei Prozent der Bilanzsumme.
Dass keine Grossbank mehr zur Verfügung steht, welche die UBS im Notfall übernehmen könnte, wird jetzt als Argument für eine verschärfte Regulierung genannt. Nur: Sie gab es auch 2008 nicht, und damals war die Lage deutlich dramatischer. Anders als die CS blickte die deutlich grössere UBS nach Verlusten von 50 Milliarden in einen tiefen Kapitalkrater, und auf ihren Servern lagerten grosse Mengen an toxischen Subprime-Papieren. Dennoch fanden die Behörden eine gute Lösung. Die neue UBS ist deutlich kleiner und deutlich risikoärmer. Da sei die Prognose gewagt: Auch eine weitere Rettung würde gelingen.
Doch entscheidend bleibt, so viel Ehrlichkeit gehört dazu: Ohne aktive Staatsbeteiligung wird es nicht gehen. Und gerade hier ist es interessant, dass eben dieser Staatseingriff für Theoretiker wie Brunetti maximales Teufelszeug ist. Eine Verstaatlichung sei «ein absolutes No-Go», dekretiert er im «FuW»-Interview: «Die Marktwirtschaft ist so organisiert, dass ein Unternehmen scheitern können muss und der Staat nicht gezwungen ist, ein solches Unternehmen zu übernehmen.» Die reine Lehre über alles – auch wenn sie bei Banken eben nicht funktioniert.
Die Praxis anderswo sieht anders aus. Für die Amerikaner ist der Staat im Notfall der entscheidende Player, für die Schweizer Theoriedebatten bleibt nur ein müdes Lächeln: In der Finanzkrise wurde der Versicherer AIG verstaatlicht, und alle Grossbanken mussten vom Staat grosse Milliardenbeträge annehmen. Bei der Schieflage der Silicon Valley Bank im letzten Jahr garantierte die staatliche Einlagenversicherung FDIC auf Geheiss des Präsidenten umgehend alle Einlagen. Und ob Commerzbank in Deutschland, NatWest in Grossbritannien oder Monte dei Paschi in Italien: Sie alle haben den Staat nach Schieflagen noch immer als Grossaktionär.
Globale Anleger vertrauen auf den Franken
Regulierungturbos wie Brunetti verweisen dann gern auf Bankpleiten in kleineren Ländern wie Island und Irland, die die Wirtschaft destabilisiert hätten und auch hierzulande drohten. Doch da verzwergen sie die Schweiz: Sie hat die härteste Währung der Welt, und würde der Staat eine in Schieflage geratene UBS übernehmen, würden die Märkte das vor allem als Soliditätsbeweis sehen, wie sie es auch bei einer CS-Verstaatlichung getan hätten. Die globalen Anleger vertrauen auch dem Franken – obwohl die Bilanzsumme der Nationalbank ebenfalls das Schweizer BIP überragt. Doch darüber redet fast niemand.
Gerade in der Schweiz wirkt da das Anti-Staats-Dogma besonders paradox. Als in den 1990er Jahren die Nachbarstaaten ihre Eisenbahnen, Telekom-Gesellschaften und Postanbieter privatisierten, blieb die Schweiz im Abseits und schwört bis heute auf ihren heiligen Service public. Und der grosse Gewinner des CS-Untergangs ist eine Staatsbank: die ZKB.
Bei all den theoretischen Spiegelfechtereien gerät die Hauptursache des Debakels aus dem Blickfeld: dass es den zwei Nichtbankern Tidjane Thiam und Urs Rohner über Jahre erlaubt wurde, die grösste Cowboy-Bank Europas in den Abgrund zu führen. Und alle schauten zu, inklusive der Finma, die alle Mittel hatte, gegen diesen Missstand vorzugehen. Aber sie wendete sie nicht an, weil sie zu schwach war.
Die Lösung: Praktiker-Perspektive statt Theoretiker-Optik. Grundvoraussetzung bei jeder neuen Chefnominierung könnte etwa sein: mindestens fünf Jahre Fronterfahrung im risikoreichsten Bereich der beaufsichtigten Bank. Wäre eine derartige Regel angewendet worden, würde die CS heute noch existieren.