«Das Virus wird nicht verschwinden»
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Martin Ackermann im Interview:«Das Virus wird nicht verschwinden»

Taskforce-Chef Ackermann über die schlimmste Zeit seines Lebens
«Ich lag jede Nacht wach»

Er hatte den schwierigsten Job in der Corona-Krise: Als Taskforce-Chef musste Martin Ackermann Bundesrat und Bevölkerung das ABC der Pandemiebekämpfung beibringen. Das ging dem ETH-Professor an die Substanz.
Publiziert: 12.08.2021 um 06:23 Uhr
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Aktualisiert: 12.08.2021 um 13:31 Uhr
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Gesicht der Krise: Mehr als ein Jahr lang leitete ETH-Professor Martin Ackermann die Corona-Taskforce des Bundes.
Foto: Keystone
Interview: Guido Schätti

Martin Ackermann (51) war das Gesicht der Corona-Krise. Der Chef der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes trat zeitweise fast wöchentlich auf, warnte vor steigenden Fallzahlen und kollabierenden Spitälern, oft vergebens. Das ging an die Substanz. Mit der vom Bundesrat eingeleiteten Normalisierung gibt der ETH-Professor seinen Job ab. Blick traf ihn per Zoom zum Abschiedsinterview.

Herr Ackermann, wie schlimm wird die vierte Welle?
Martin Ackermann: Das hängt davon ab, wie viele sich noch impfen lassen, welche Variante sich durchsetzt und wie sich die Leute verhalten. Eine Prognose ist extrem schwierig. Klar ist aber, dass das Virus nicht verschwinden wird. Ungeimpfte werden früher oder später damit in Kontakt kommen.

Die Gefahr ist also nicht gebannt?
Nein. Drei Millionen Menschen haben in der Schweiz keine Immunität. Das ist deutlich mehr, als sich bisher infiziert haben. Wenn sie sich innerhalb weniger Monate anstecken, führt das zu vielen Hospitalisierungen.

Unsere Nachbarländer weiten die Zertifikatspflicht aus. Bundesrat Alain Berset findet die Diskussion «bizarr» und schliesst das in der Schweiz aus. Finden Sie das auch bizarr?
Aus wissenschaftlicher Sicht kann ich sagen, dass das Zertifikat Teil eines Schutzkonzepts ist und es erlaubt, dass möglichst viele Aktivitäten sicher stattfinden können.

Sie halten eine Ausweitung also für sinnvoll?
Das ist ein politischer Entscheid.

Dem Alter auf der Spur

Über ein Jahr lang war ETH-Professor Martin Ackermann (51) Chef der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes. Er leitete das Gremium mit zehn Expertengruppen und rund 70 Forscherinnen und Forschern und beriet den Bundesrat. Ackermann studierte Biologie in Basel, forschte zeitweise in den USA und ist seit 2015 Professor für Evolutionsbiologie an der ETH Zürich. Sein Spezialgebiet ist die Erforschung der Alterung mittels Bakterien. Er wurde in Schwyz geboren, wuchs aber in Zofingen AG auf. Der Vater von zwei schulpflichtigen Kindern lebt mit seiner Familie in Zürich. Die Freizeit verbringt er am liebsten draussen – mit Zelt oder Mountainbike.

Über ein Jahr lang war ETH-Professor Martin Ackermann (51) Chef der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes. Er leitete das Gremium mit zehn Expertengruppen und rund 70 Forscherinnen und Forschern und beriet den Bundesrat. Ackermann studierte Biologie in Basel, forschte zeitweise in den USA und ist seit 2015 Professor für Evolutionsbiologie an der ETH Zürich. Sein Spezialgebiet ist die Erforschung der Alterung mittels Bakterien. Er wurde in Schwyz geboren, wuchs aber in Zofingen AG auf. Der Vater von zwei schulpflichtigen Kindern lebt mit seiner Familie in Zürich. Die Freizeit verbringt er am liebsten draussen – mit Zelt oder Mountainbike.

Die Schweiz hat eine tiefe Impfquote. Was sagen Sie Leuten, die sich partout nicht impfen lassen wollen?
Ich habe keine Mühe zu akzeptieren, wenn sich jemand bewusst gegen eine Impfung entscheidet. Auch in meinem Umfeld gibt es Ungeimpfte. Wenn sich die Leute auf Argumente stützen, die aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar sind, versuche ich, ihnen die Fakten darzulegen.

Machen wir den Test: Ich war immer gesund. Dann muss ich mich doch nicht impfen lassen!
Wenn Sie sich nicht impfen lassen, werden Sie sich früher oder später mit dem Virus anstecken. Aus gesundheitlicher Sicht ist eine Impfung viel weniger gefährlich als eine Infektion. Zudem schützen Sie mit der Impfung nicht nur sich selber, sondern leisten auch einen Beitrag dazu, dass wir alle schneller aus der Krise kommen.

Schön und gut. Ich traue aber den mRNA-Impfstoffen nicht. Das ist neumodisches Zeug, wir haben schlicht zu wenig Erfahrung mit dieser Technologie.
Es ist tatsächlich die erste mRNA-Impfung, aber die wissenschaftlichen Grundlagen wurden sehr sorgfältig erarbeitet. Nie zuvor gab es eine Impfstudie, bei der man so viele Informationen über Wirkung und Nebenwirkungen hatte.

Sie wollen die Impfquote erhöhen, indem Sie die Leute direkt ansprechen und mit ihnen solche Fragen klären. In der Schweiz scheitert das aber am Datenschutz. Haben Sie noch andere Vorschläge?
Direkt ansprechen kann man Menschen auch, wenn man keine Liste mit den Geimpften hat. Wir können die Menschen beim Impfentscheid unterstützen. Viele sind nicht prinzipiell gegen das Impfen, aber sie kamen aus unterschiedlichen Gründen noch nicht dazu. Ihnen müssen wir einfache Angebote machen.

Wie konkret?
Die Hausärztinnen und Hausärzte haben oft eine Vertrauensbeziehung zu ihren Patienten und Patientinnen und können sie gut erreichen. Auch Impfungen im Betrieb können helfen. Ich würde meine jährliche Grippeimpfung wohl auch vergessen, hätte ich bei der Arbeit nicht die Gelegenheit dazu. Je einfacher der Zugang, desto mehr Leute erreicht man.

Wie hoch muss die Impfquote sein, damit die Pandemie in zwei Monaten Geschichte ist?
Wir haben genügend sehr wirksame Impfstoffe und eine Infrastruktur, die es erlaubt, über 100'000 Menschen pro Tag zu impfen. Würden sich also die drei Millionen Menschen, die jetzt noch ohne Immunschutz sind, impfen lassen, wäre das Virus zwar nicht verschwunden, aber es entstünden keine Wellen mehr, die das Gesundheitswesen und damit die ganze Gesellschaft bedrohen.

Im letzten Herbst hatten wir eine solche Welle. Sie warnten während Wochen, doch Bund und Kantone schoben sich den Ball zu und taten nichts.
Die Ansteckungen und Spitaleinweisungen verdoppelten sich damals wöchentlich. Das war die schwierigste Zeit für mich. Es war klar: Wenn das so weitergeht, dann wird das Gesundheitssystem überlastet. Wenn es nur schon gelungen wäre, die Welle eine Woche früher zu bremsen, wären viel weniger Menschen infiziert und krank geworden und weniger gestorben. Wir wären auch mit tieferen Fallzahlen in den Winter gegangen und hätten früher lockern können.

Hatten Sie keinen direkten Draht zur Politik?
Doch, im Herbst konnten wir einen Dialog etablieren, wir hatten auch ein Treffen mit dem Gesamtbundesrat.

Dennoch zauderten die Entscheidungsträger. Wie war das für Sie?
Das war die Zeit, als ich fast jede Nacht wach lag oder erwachte und nicht mehr einschlafen konnte.

Was muss sich politisch ändern, damit sich das System nicht selber blockiert?
Der Föderalismus hat viele Vorteile, da er es erlaubt, den Unterschieden der Kulturen und Kantone Rechnung zu tragen. Im letzten Herbst zählte aber jeder Tag. Der Föderalismus erschwerte schnelle überregionale Entscheidungen. Wir müssen nicht das ganze System umkrempeln, aber wir müssen sicherstellen, dass wir schnell handeln können, wenn das nötig ist. Man muss aber auch festhalten: In der ersten Welle hat die Schweiz sehr schnell reagiert. Erst als die ausserordentliche Lage vorbei war, wurde es schwieriger.

Die Taskforce musste sich dem Bund im Frühling 2020 förmlich aufdrängen. Findet die Wissenschaft zu wenig Gehör in der Schweiz?
Ich würde nicht sagen, dass wir uns aufgedrängt haben, aber wir waren überzeugt, dass es in dieser Krise wissenschaftliche Expertise braucht. Die Krise hat den konstruktiven Austausch zwischen Wissenschaft und Politik verstärkt. Ich bin froh, wenn sich die Taskforce möglichst schnell auflösen kann, denn das bedeutet, dass die Krise vorüber ist. Der Dialog muss aber unbedingt weitergehen.

Auch innerhalb der Taskforce gab es Spannungen. Einzelne Exponenten verliessen das Gremium mit Getöse. Sie mussten vermitteln zwischen Virenjägern und Leuten, die eine breitere gesellschaftliche Perspektive vertraten.
Es gab viele Diskussionen, das gehört aber zur Wissenschaft. Die unterschiedlichen Positionen halfen uns, eine ausgewogene Sicht zu entwickeln. Das war ein grosser Vorteil des Schweizer Modells. Es gab viele Länder, in denen die Begleitgruppe vor allem aus Medizinern und Epidemiologen bestand. Wir hatten auch Forschende aus Ethik, Wirtschaftswissenschaft und Digitalisierung und anderen Disziplinen in der Taskforce.

Taskforce-Mitglied Marcel Tanner kritisierte, gewisse Wissenschaftler würden lieber in den Spiegel statt aus dem Fenster schauen. Ist die Generation Twitter vor allem auf Selbstprofilierung aus?
Natürlich gibt es unter Forschenden unterschiedliche Charaktere und Temperamente. Für die allermeisten war es eine neue Erfahrung, plötzlich in der Öffentlichkeit zu stehen. Entscheidend war aber, dass es in der Taskforce immer um die Sache ging. Letztlich wollten alle dazu beitragen, dass die Schweiz besser durch diese Krise kommt.

Die dritte Welle im Frühling 2021 schätzte die Taskforce falsch ein. Ihr Modell sagte eine Überlastung des Gesundheitssystems voraus, tatsächlich flachten die Zahlen ab.
Ja, zum Glück lagen wir falsch. Wir realisierten im Nachhinein, dass eine Pandemie eine unvorhergesehene Wendung nehmen kann. Es spielen extrem viele Faktoren hinein; wenn sich einer ändert, hat das grosse Auswirkungen auf das Ganze. Wichtig ist etwa, wie sich die Menschen bei einer Öffnung verhalten. Offenbar hatten die meisten Leute gelernt, sich so zu verhalten, dass sie sich nicht anstecken. Das hatten wir unterschätzt.

Der Fehlalarm hat die Taskforce Glaubwürdigkeit gekostet.
Im Rückblick wünschte ich mir, wir hätten besser realisiert, wie gross die wissenschaftlichen Unsicherheiten damals tatsächlich waren. Gleichzeitig waren wir überzeugt, dass ein grosses Risiko bestand. Es war unsere Verantwortung, das zu kommunizieren – selbst auf die Gefahr hin, dass es nicht eintritt.

Sie wurden persönlich angefeindet, sogar eine Strafanzeige ging gegen Sie ein wegen angeblicher Schreckung der Bevölkerung.
Die Anfeindungen gingen an die Substanz. Es gab aber auch sachliche Kritik, die sehr willkommen war.

Wie ging Ihre Familie damit um?
Ich versuchte, sie so gut wie möglich abzuschirmen. Ich war vor allem froh, dass die Schulen offen blieben. Das hat uns als Familie sehr geholfen.

Haben Sie jemals daran gedacht, den Bettel hinzuschmeissen?
Nein, wir hatten einen sehr engen Zusammenhalt in unserer Gruppe, auch der Dialog mit dem BAG und dem Innendepartement war sehr intensiv. Sie mussten weitermachen, egal, wie stark sie unter Druck standen. Deshalb war es auch für mich nie ein Thema auszusteigen.

Würden Sie den Job nochmals antreten?
Auf jeden Fall. Ich habe seit mehr als zehn Jahren eine Professur an der ETH. Die Schweiz steckt enorm viel in die Forschung, sorgt für beste Bedingungen. Wenn sich die Chance ergibt, dass ich mich für die Gesellschaft einsetzen kann, würde ich das jederzeit wieder tun. Es war eine strube Zeit, aber ich habe viel gelernt.

Was vor allem?
Dass die Wissenschaft verstehen muss, wie die Politik funktioniert, und die Politik, wie die Wissenschaft funktioniert. Der Dialog ist enorm wichtig, denn oft verhindern politische Sachzwänge, das umzusetzen, was aus wissenschaftlicher Sicht vielleicht richtig wäre.

Und als Mensch?
Ich habe noch nie eine derart schwierige Zeit erlebt. Das Ausmass an Stress ging weit über das hinaus, was ich zuvor kannte. Ich glaube, ich werde in Zukunft in vielen Situationen sehr viel gelassener bleiben.

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